

VON DER AUFERSTEHUNG, DER WÜRDE UND DEM GERADEN RÜCKEN
Gedanken zu Trauma und Würde an Ostern 2021
Die Mikwe, der Phönix und Frida Kahlo
In der jüdischen Mikwe tauchen die Menschen ganz unter Wasser. Sie lassen die Fluten über sich zusammenschlagen um dann gereinigt und neu ausgerichtet das rituelle Bad zu verlassen. Der Phönix lässt sich zu Asche verbrennen bevor er mit neuem Gefieder nach oben aufsteigt. Frida Kahlo ging mit geradem Rücken und Blumen im Haar in der Mitte ihrer Lebensstraße, unbeugbar, obwohl sie zeitlebens ungeheure physische und psychische Schmerzen hatte. Ich habe ihre Haltung ausprobiert: die gesenkten, nach hinten gezogenen Schultern, der aufrechte Hals, die Kraft, die aus dem großen Rückenmuskeln, dem Latissimus dorsi kommt. Es ist eine völlig andere Haltung als die soldatischer Starre, bei der die Wucht mancher Lebenswogen mit dem darauffolgenden, oft überwältigenden Empfindungen ausgeklammert wird.
Das Mikwe-Ritual, der Phönix und Frida Kahlo gemeinsam erinnern mich an etwas, was Menschsein in seinem Kern für mich ausmacht: Würde. Die Würde uns immer wieder aufrichten zu können.
Wieder-Aufrichtung nach dem Trauma als Osterimpuls
Obwohl ich nicht im engeren Sinne christlich bin, ist das für mich eine der zentralen Erinnerungen von Ostern. Wir können uns wieder aufrichten. Wir können da, wo wir uns als Objekte gefühlt haben, unseren unveräußerlichen menschlichen Wert wieder entdecken und mit dem mit geradem Rücken in der Mitte der Strasse sichtbar werden. Gerade dann, wenn wir unsere Würde als versehrt empfinden – wie es bei allen durch Menschen gemachten Traumatisierungen aber häufig auch bei schweren Erkrankungen und anderen biographischen Rissen ist – liegt in dieser Würde unsere Fähigkeit, uns wieder als Subjekt, als Mensch mit einem unbeschädigbaren Wert wahrzunehmen. Und nicht nur uns selber, sondern auch unser Gegenüber, die Menschen mit denen wir in Beziehung stehen.
Entwürdigung: wenn wir einander zu Objekten machen
Denn eine der besten Definitionen von Entwürdigung, an die mich Karfreitag eine kluge Bekannte erinnert hat, stammt von Gerald Hüther. Entwürdigung beginnt da, wo wir einander zu Objekten machen. Da, wo wir einander als Spielfiguren in den Drehbüchern alter Filme, als Kaleidoskopstückchen bei der Wiederholung alter Muster sehen, verpassen wir einander als eigenständige Subjekte, als Menschen mit individuellen seelischen Bewegungen, Träumen, Ausrichtungen und Gesten, auf das Leben zu antworten. Diese Art von Entwürdigung ist eine, die in unserem Alltag am häufigsten stattfindet. Sie ist so gut wie immer wechselseitig.
Von Verletzungskreisläufen und den Ausweg des geraden Rückens
Das Einander-zu-Objekten-Machen setzt fatalerweise oft genau da ein, wo wir uns vor der Wiederholung alter Verletzungen zu schützen versuchen, wo in unserem Nervensystem die Wellen von Kampf, Flucht oder Unterwerfung so branden, dass wir für unser Gegenüber taub und blind werden. Genau an diesen Punkten setzen wir alle die ewigen Kreisläufe fort, aus denen immer neue Verletzungen entstehen.
Das ist der Moment, wo sich irgendetwas in uns daran erinnern darf, dass wir uns wieder aufrichten können. Dass wir den Rücken gerade machen können und Blumen ins Haar stecken in dem Bewusstsein des Privilegs, jeden Tag neu wählen zu können, wer wir in Würde sind und sein können.
Nicht nur an Ostern.
(c) Judith de Gavarelli Ostern 2021