LAVA UND FLAUMFEDERN

Vom Handschreiben und der zärtlichen Weltbezeugungskraft Inger Christensens

“Es gibt die Aprikosenbäume. Die Aprikosenbäume gibt es.”

Ich weiß nicht, ob meine Lieblingslyrikerin Inger Christensen diese ersten zwei Sätze aus ihrem bekanntesten Werk “Alphabet” mit der Hand geschrieben hat.
Das Schreiben mit der Hand gehört im Moment zu meinen liebsten Beschäftigungen. Oder vielmehr zu meinen liebstwichtigsten. Es ist eine bestimmte Art des Schreibens: ich benenne, beschreibe und bezeuge dabei fast täglich 15 bis 20 Minuten lang die Dinge auf La Palma um mich herum. Lava, lila Jacarandablüten, Lederschuhe, Lambada, Lamento und andere Dinge, die mit ganz anderen Buchstaben beginnen aber eins gemeinsam haben: sie sind da. Ganz unmittelbar, wie ich eben auch da bin. Ich: Beteiligte und Zeugin.

Handschreiben und der Takt der Wirklichkeit

Auf geheimnisvolle Weise wird durch diesen sehr simpel klingenden Akt des Schreibens aus den lose herumflatternden Fragmenten des Weltgestöbers in mir ein zusammenhängendes Gewebe. Dieses alltägliche Wunder hat damit zu tun, dass der komplexe motorische Prozess beim Schreiben mit der Hand auch die impliziten Erinnerungsarchive in uns anspricht, die fernab unseres expliziten Bewusstseins in der Heimlichkeit unserer Zellen wohnen. Durch den Akt des Handschreibens verlangsamt sich die Wahrnehmung enorm, die Wimpernschläge der Wirklichkeit bekommen einen anderen Takt. Einen Beat, der es ermöglicht, dass etwas nicht aus-sondern einufert zu einem See dem man sich in der Sommerwärme treiben lassen kann, einem freundlichen Meer, dessen Oberfläche man nicht jede Sekunde argwöhnisch beobachten muss.

Zärtliche Weltbezeugung: lernen vom “Alphabeth” von Inger Christensen

Manchmal, an guten Tagen, geschieht aber noch etwas Weiteres: in dieser schlichten Bezeugung dessen, was in dem Augenblick um mich herum ist, stellt sich manchmal die Art von Zärtlichkeit ein, die ich bei Inger Christensen auch finde. Sie legt die Dinge mit einer Geste vor sich hin wie man vielleicht in einem von Fragilität berührten Moment Flaumfedern vor sich auf den Tisch legen würde. Chrysanthemen, Chlorgas, Cerebellum – die Ordnung ihres Alphabets des Seienden ist nicht Bewertung, sondern die dem Großgedicht zugrunde liegende Fibonacci Reihe, eine mathematische Formel für natürliches Wachstum. Trotz der Bezeugungsperspektive ist ihr Blick ein warmer, der auch der Trauer angesichts menschengemachter Zerstörung Raum gibt.

Zeugenschaft, Wärme und Distanz

Die Bezeugungskräfte in unserem Bewusstsein schaffen Distanz. In dieser von sehr großen Erschütterungen und Durchwirbelungen geprägten Zeit habe ich oft das Bedürfnis nach Distanz gespürt. Rein physisch dadurch, dass ich sehr häufig aus meinem Tal in die höher gelegenen Bergregionen der Insel fahre. Aber auch auf anderen Ebenen brauche ich manchmal Distanz um die Herausforderungen, die manchmal an der Grenze des Bewältigbaren liegen, wieder einufern zu können.
Wir können aus der Distanz des Zeugenbewusstseins kalt werden. Inger Christensen jedoch erinnert uns an etwas anderes:
dass wir das Bezeugen auch mit der Art von Wärme tun können, als ob wir Flaumfedern vor uns zärtlich auf den Tisch legten.