POESIEFESTIVAL “NOMBRARSE VOLCAN” 2-4 JUNI 2022

Regeneration vom Vulkanausbruch La Palma 2021

Wie eine Insel wieder zur Sprache kommt
Heute, als ich auf dem Poesiefestival von Los Llanos war, fiel mir ein, dass ich bei Peter Sloterdijk in dem Buch “Zur Welt kommen, zur Sprache kommen” den Gedanken las, das Sprache gleich einer Tätowierung unseres Nervensystems ist. Obwohl mein Spanisch nicht besonders gut ist, habe ich es gewagt, zu den großartigen Poesie Performances zu gehen. Weil ich viele Wörter von ihrer Wortbedeutung gar nicht verstehen konnte, ist die Sprache viel mehr meinem Nervensystem begegnet als meinem Wortverständniszentrum.
Lola Nieto, eine der Lyrikerinnen schrieb mir dazu heute, ich “hätte verstanden, was da pocht”. So habe ich das großartige Geschenk, dass die Organisatorin Patricia Figuero der Insel gemacht hat, auf eine zwar andere, aber mich auch unendlich bereichernde Weise bekommen.
Wenn das Nervensystem spricht
In den letzten Tagen habe ich bedingt durch die Hörbuchaufnahmen zu meinem Kinderbuch viel über die Verkörperung von Sprache und die Versprachlichung des Körpers nachgedacht. Während der Aufnahmen im Tonstudio auf La Palma habe ich vor dem Mikrofon aufs Lustigste grimassiert, weil ich festgestellt habe, wie sehr das den Klang und das stimmliche Leben der einzelnen Charaktere beeinflusst. Spannend ist auch, das damit auch neue sprachliche Inhalte und Assoziationen auftauchten. Und der Zustand meines Nervensystems wie eine Grundfärbung sowohl tagesaktuell in meiner Stimme zu hören ist wie auch als eine Art Grundzeichnung überall durchschimmert.
Zeichnen und gezeichnet werden

Es ist ein ständiger Austausch des Zeichnens und gezeichnet Werdens, der zwischen unserem Körper und unserer Sprache stattfindet. Ich mag die Idee von sich überlagernden, vieldimensionalen Schriften. Biochemischen Erzählungen, die unsere Physiologie durchziehen und in geheimnisvollen Akten zu geschriebenen oder gesprochenen Worten werden. Oder, wie auf dem Festival, zu Performances, bei denen so viel mehr spricht als das Wort. Es ist dieses verkörperte Sprechen, dass die schreckensstarre Stummheit überwindet, die der Vulkanausbruch 2021 hinterlassen hat.

Poesie als Vergoldung der Fissur

Ich glaube, aus dem Riss, dem Bruch, der Fissur machen wir oft diese Sprachbewegungen, die erst einmal noch gar nicht zu enträtseln sind und sich erst in der Retrospektive zu etwas formen.
Manchmal einer Narbe, manchmal einer Bezeugung von Wunden, manchmal einer Vergoldung der Fissur.
Ich kann – tief beeindruckt – noch gar nicht benennen, was aus dem Festivals wachsen wird. Ich kann nur sagen, dass ich Zeugin sein durfte, wie sich etwas aus der Wunde heraus zur Welt gebracht hat.
Etwas das pocht.

(c) Judith de Gavarelli Juni 2022