Christian Boltanski: der Zeuge der Namenlosen

Kunst gegen das Verschwinden

Erinnerungskunst gegen den Horror der Entindivialisierung

Kleidungsstücke. Berge von Kleidungsstücken, muffig riechend. Zusammengeworfene Haufen der dritten Häute von Menschen, dazwischen enge Gänge. Im nächsten Raum spärlich beleuchtete Fotografien. Erinnerungen an Büros, in denen eine Sonderkommision nach Verschwundenen sucht werden wach. Beklemmend. Bei meiner ersten Begegnung mit einer Rauminstallation des 2021 verstorbenen Künstlers Christian Boltanski glaubte ich anfänglich, mit den Originalkleidungsstücken von Holocaustopfern konfrontiert zu sein. Ich vermutete so etwas ähnliches wie in der Holocaust Gedenkstätte Yad Vashem, in der die Zeugnisse der unmenschlichen Endindividualisierung aufbewahrt werden. Die Frage, wie Gegenstände uns als Individuen zeichnen und wie die Würdigung dieser Gegenstände eine Möglichkeit schafft, uns gegen Tod und Verschwinden aufzulehnen, beschäftigte den französischen Künstler zeit seines Lebens. Als 1944  in Paris geborener Sohn eines jüdischen Arztes, der sich im Boden unter der Wohnung während des Nationalsozialismus versteckte, bezeichnete sich Boltanski als “ein Kind der Shoa”. Ein Nachlassverwalter der Art von Horrors, die im Ausradieren von Individualität liegt.

“Es ist geschehen” als Botschaft an unsere Sinne

Seine Rauminstallationen sind manchmal temporär zu sehen, verbleiben  jedoch manchmal auch als Festinstallationen wie in der Völklinger Hütte als permanente Mahnmale, die an den Tod unzähliger Zwangsarbeiter erinnern. Dabei erinnern sie nicht im Wesentlichen mit der Geste eines Geschichtsunterrichtes unsere Kognition. Vielmehr sprechen sie in atmosphärischer, die Themen unseren Sinnen mitteilenden Weise, in unsere Körper- und Sinnesbewusstseins ihre wichtigste Botschaft hinein: “Es ist wahr. Es hat stattgefunden und wir dürfen es nicht im Vergessen verschwinden lassen.” Boltanski lässt uns in seinen gleichsam konzeptuellen wie atmosphärischen Arbeiten die entmenschlichende Auslöschungsmaschinerie des Holocaust nachempfinden. Auch in Arbeiten mit anderen Inhalten – wie dem Sammeln unzähliger Herzschläge von JapanerInnen rückt die Bedeutung des Bewahrens der Zeugnisse von Individualität in unser Bewusstsein. So macht er auch die Betrachtenden zu Zeugen, die die Ausstellung mit einem “Das ist tatsächlich geschehen!” Bewusstsein verlassen – ein leiser, innerlicher Akt des Auflehnens gegen das Vergessen, das Leugnen und die Bagatellisierung.