Ein Interview mit vielen Fragenden

Bei diesem Interview, aus dem gerne zitiert werden darf, haben mir verschiedenen Menschen aus unterschiedlichen Fachdisziplinen Fragen gestellt. Jede davon hat sich als kostbar erwiesen, denn Fragen klären unseren Blick und bringen neue Ideen zum Vorschein.

Weil das ständig wachsendes “work in progress” ist, freue ich mich auch über Deine Fragen an info@kunst-und-trauma.de

Jeder kennt die Formulierung „da ist jemand gebrochen“. Ich habe mich oft gefragt, was denn dieser Bruch ist. Und was der Riss, der bei jedem Bruch auftaucht und vorher verbundene Teile voneinander trennt.

Einmal ist es glaube ich das, was in der Psychologie als Kohärenzerleben bezeichnet wird. Also das Gefühl, dass die Wirklichkeit als etwas Einheitliches mit einem zusammenhängenden Sinn erfahren wird, von dem wir Teil sind. Die meisten Menschen erleben sich als Folge einer Traumatisierung so, als gäbe es einen Riss zwischen Ihnen und der Wirklichkeit. Das Leben selber und andere Menschen fühlen sich als irreal und fremd an. Den Riss wieder zu einer Passage zu machen, durch die Energie, Verbundenheit und Lebendigkeit fließt, ist eine der großen Aufgaben.

Weil dies nach meinem Empfinden so zentral ist, habe ich das Wort „Riss“ anstelle des eher medizinischen Begriffs Trauma gewählt.

Risskultur ist eine Kultur, die das Wiederverweben der Risse leichter macht, so könnte man das vielleicht in einem Satz benennen.

Meine Vision einer lebensförderlichen Risskultur ist, dass wir ein gesellschaftliches Klima erreichen, in dem es Betroffenen  leichter möglich ist, nach einem Trauma wieder zu einem Leben mit guter, reicher Lebensqualität zurückzufinden. Eine Notwendigkeit dafür ist, dass das Thema “Trauma” in unserer Kultur einen sichtbareren Platz bekommt. Es bedeutet ebenso, dass mehr Menschen empathisch auf Betroffene reagieren können. So wird die quälende Glasglocke der Isolation durchbrochen, die jeder Betroffene kennt.

Ich wünsche mir, dass es mehr Wissen in der Gesellschaft darüber gibt, was ein Trauma und posttraumatische Belastungsstörungen sind. Und zwar nicht nur als intellektuelles Wissen, sondern auch als etwas, was ich empathisches Wissen nenne: etwas mehr darüber zu wissen, wie es einem Menschen nach einem Trauma geht und wie wir warm, menschlich und hilfreich unterstützen können. Oder als Betroffener zu wissen “Ich bin mit meinem Erleben nicht alleine.”. Und: “Ich kann einordnen, was in mir passiert.”

Ein Beispiel ist, wie der Suizid des bekannten Torwarts Robert Enke und die bewundernswerte Arbeit seiner Frau Theresa Enke das Thema Depression deutlich sichtbarer und kommunizierbarer gemacht hat.

Ich stelle mir zusätzlich vor, dass es auch außerhalb des konkret religiösen Rahmens Orte gibt, an denen Empfindungen einen Platz finden. Sei das Kummer und Entsetzen wie bei einer Klagemauer oder Räume der Zuversicht – eines meiner künstlerischen Großprojekte, zu dem man auf dieser Seite mehr findet. Wir brauchen diese kulturellen Räume um der großen Anzahl von Betroffenen das Gefühl zu geben, angenommen und Teil der Gesellschaft zu sein. Wir müssen unsere Fähigkeit des wissenden Mitgefühls steigern und nicht alles in den professionellen Bereich verlagern.

Und wir benötigen Rituale, Bilder, Worte – Formen, die dem Schrecken einen Ort geben. Ich vergleiche das oft mit der 13. Fee bei Dornröschen. Sie muss an den Tisch gebeten werden, damit sie nicht ihre destruktive Wirkung entfaltet. Kunst, Literatur und Musik helfen, diesen Platz am Tisch einzudecken. Da ich Künstlerin bin, ist dass der Fokus meiner Arbeit: dem lebensförderlichen Umgang mit großen Erschütterungen in der Gesellschaft eine Form zu geben.

Kunst, die mit den gefrorenen inneren Kammern in Resonanz geht, kann Starre lösen und wieder an den Wärmestrom von Lebendigkeit anbinden. Sie reicht Worte, Klänge und Bilder, wo etwas in uns sprachlos vor Entsetzen ist. Sie macht Unsagbares sagbar, öffnet Wortkanäle und lässt unsere eigene Schöpferkraft zu uns sprechen.

Sie kann Betroffenen das Gefühl geben, in unverständlichen, isolierenden Empfindungen eine Resonanz zu finden. Nicht-Betroffenen ermöglicht sie, Räume tiefen Verständnisses zu öffnen. Sie stößt gesellschaftliche Diskussionen an und verleiht Themen Sichtbarkeit.

Eines der anrührendsten Geheimnisse von Leben ist, dass die Natur immer aus Verletzung Neues kreiert. Ist z.B. der Lebensraum für eine Art beschädigt, lässt das kreative Spiel der Schöpfung neue Arten entstehen. Nicht einmal, sondern immer wieder. Leben ist seinem Wesen nach künstlerisch. Deshalb, so glaube ich, bindet uns Kunst an Urkräfte von Lebendigkeit an.

Gestalter sein und Gestaltung im Riss zu erfahren ist die stärkste Gegenbewegung zur Opferohnmacht. Aus meiner Sicht kommt eine lebensfreundliche Risskultur nicht ohne Kunst aus.

Es gibt vier wesentliche Elemente des Projektes:
1. Das erste ist diese Website. Perspektivisch möchte ich hier nicht nur eigene Arbeiten zum Thema Trauma zugänglich machen, sondern auch die anderer Künstler. Hier entsteht ein ständig wachsender Wissens-und Inspirationspool zum Thema “Kunst und Trauma”.

2. Das zweite ist, dass ich Vorträge und Lesungen für Online-Kongresse und Fachpublikum anbiete. Das Ziel dahinter ist, den Zuhörern den besonderen inneren Erfahrungsraum zugänglich zu machen, den Kunst und Kultur jenseits der Kognition ermöglichen. Das ist eine weitere Perspektive, die ganz eigene Intensitäten des Verständnisses traumatischer Innenwelten öffnet.

3. Gemeinsam mit Kommunen bin ich dabei, regionale Projekte zu entwickeln wie “Räume der Zuversicht” gestaltet werden können – sowie andere Räume, in denen die Empfindungen von Trauma ihren Platz finden. Eine besondere Rolle spielt dabei Corona / Covid 19 als kollektives Trauma.

4. Das Wichtigste ist natürlich die künstlerische Arbeit selber. Neben Ausstellungen eigener Arbeiten, von denen viele hier auf der Website zu sehen sind, arbeite ich gerade an der Finanzierung des internationalen Rauminstallation Projektes “Räume der Zuversicht”. Auf dem Planungskalender steht außerdem eine internationale Ausstellung zum Thema Trauma, die auch die Verarbeitung von Corona beinhaltet.

Die vielleicht am besten passende Formulierung ist: “Ich bin risserfahren.”.

In einer Weise, bei der es im Grunde kein “Vorher“ gab, sondern gutes oder besseres inneres Leben immer im Raum der Neuschöpfung lag. Es ist sowas wie eine tiefe Erfahrung, dass Hoffnung im Ungewissen und in den unendlichen Möglichkeiten des kreativen Raumes liegt.

Seit ich denken kann, war Kreativität mein Zufluchtsort. Anfänglich vor allem die Worte, später kam der bildende Aspekt dazu. In zwei Situationen habe ich die Kunst als konkret lebensrettend empfunden – einmal im psychischen Sinn einmal im physischen. Die Geschichten dazu findet man in meiner Biographie.

Darüber hinaus bin ich einmal in einer Psychotherapie gewalttätig misshandelt worden. Das war so ein Schock, dass mir dieser Weg lange Zeit verschlossen war. Ich bin unendlich dankbar, mir durch die Kunst Möglichkeiten eigener Antworten auf Extrembelastungen zugänglich gemacht zu haben, die mir ohne diese Arbeit sicher verschlossen geblieben wären. Das betrifft nicht nur meine Arbeit als Kunstschaffende, sondern auch als Lesende, Hörende und Betrachtende.

Für mich ist Kunst eine Lebenskultur, die uns immer wieder an den Hoffnungsort der Möglichkeiten im Ungewissen anbindet.

Ich spreche als Künstlerin, weil das mein Beruf ist und die Art, wie ich in der Gesellschaft wirksam werden kann. Dann spreche ich als Betroffene, bei der die Kunst ein wesentlicher Teil des Heilungswege ist. Durch mein vorheriges Medizinstudium, viele Jahre Arbeit in der Psychiatrie und ungeheure Neugier auf die neurophysiologischen Aspekte von Trauma habe ich viel Fachwissen. Aber das, was ich aus meiner Sicht bei dem Thema “Trauma” zu geben habe, gebe ich aus der Position einer Künstlerin, die die Kraft der Kunst für posttraumatisches Wachstum immer wieder lebendig erfährt.

Eine der besonderen Hürden meiner Biografie war, dass ich innerhalb einer Traumatherapie schwer physisch misshandelt worden bin. Dadurch war es mir lange Zeit nicht möglich, noch einmal Hilfe im therapeutischen Rahmen zu suchen. Durch mein Studium, die Arbeit in der Psychiatrie sowie meine nicht enden wollenden Neugier habe ich jedoch das Glück, mir in sehr hohem Maße Selbsthilfekompetenz aneignen zu können. Da spielt die Kunst eine wesentliche Rolle.

Kunst prägt in hohem Maße das Klima in einer Kultur mit. Hier sehe ich eine Rolle für uns Künstler, die über den Selbsthilfeaspekt hinausgeht. Sichtbar machen, kommunizierbar machen, zugänglich machen. Menschen, die in irgendeiner Form mit Traumatisierten arbeiten, die Möglichkeit geben, Innenräume des Traumas in besonderer Verdichtung zu erfahren. Und nicht zuletzt für Betroffene ein Resonanzfeld zu schaffen, in dem sie erkennen können: “Da teilt jemand meine Erfahrungen. Ich bin nicht allein.” Kunst hat außerdem diese wundersame Transformationskraft, durch die aus dem destruktivsten Impuls etwas Neues entstehen kann. Das machen wir Künstler zugänglich. Wir fügen sozusagen Humus zum Boden des gesellschaftlichen Feldes hinzu, auf dem die Arbeit der TherapeutInnen an der einzelnen Pflanze wirksam wird.

Und wir können Impulse für Betroffene geben, selber mit den Mitteln der Kunst an ihrer Rissverwebung zu arbeiten. Das kann ich in meinem Fall mit viel fundiertem Know How. Aber der Ort, von dem aus ich am wirksamsten spreche, ist nicht der Platz einer Therapeutin, sondern eines Menschen, der in ganz hohem Maße die Heilkraft der Kunst erfahren hat.

Eine Kultur ist sozusagen die Atmosphäre, das Klima, in dem etwas gedeihen kann oder Wachstum erschwert wird. Man kann das sehen wie Regen, Sonne, Wind und Erdbeschaffenheit, die fruchtbaren Boden schaffen im Vergleich zur Therapie, die sich um das Gedeihen der einzelnen Pflanze kümmert.

Wir haben in unserer Gesellschaft den Umgang mit biografischen Rissen und dem, was wir als Trauma bezeichnen, in den Bereich der Therapie verlagert. Aber wir brauchen ein Gesamtklima, in dem es für Betroffene leichter ist, dass ihre Risse wieder zusammenwachsen können. Meine Vision wäre ein Klima, in dem es mehr Menschen möglich ist, aus ihren großen Verletzungen etwas Neues, Schöpferisches von neuem Wert entstehen zu lassen. Das ist vergleichbar dem japanischen Kintsugi – der Kunst der Rissvergoldung von gebrochenem Porzellan – in der der Riss nicht verborgen wird, sondern Element des neuen ästhetischen Wertes.

Das ist eine sehr interessante Frage. Ich würde sagen der Unterschied ist, dass eine Arbeit oder ein Text ÜBER Trauma einem Grundriss oder eine Bauskizze ähnelt. Künstlerische Arbeiten, die unmittelbar aus den Räumen des Traumas heraus entstehen, bieten die Möglichkeit, diese Räume so zu erfahren, als würde man sie betreten.

Viele der Texte sind beispielsweise direkt aus einem Triggerzustand, einer Dissoziation oder Ähnlichem geschrieben. Es ist wie eine Art Liveschaltung in das Trauma hinein und bietet so Öffnungen, die Texte oder Bilder aus der ÜBER – Perspektive nicht ermöglichen. Sie richten sich weniger an das kognitive Verstehen als an unser emotionales Verstehen, die Möglichkeit berührt und getroffen zu werden und mit dem Einlassen auf eine Arbeit tiefe innere Bewegungen vollziehen zu können.

Mich hat z.B. als Jugendliche das Gedicht “Engführung” von Paul Celan besonders berührt. Da hatte jemand das Durchschreiten eines Fragmentierungszustandes, den ich gut kannte, während eines Gedichtes vollzogen. Das gab mir ein Gefühl von Verbindung in einem Bereich, wo ich mich als komplett isoliert erlebt habe. Ich habe in dem Moment nicht Paul Celan gesehen, sondern meinen eigenen fragmentierten Raum durchwandern können – hin zu dem wunderbar hoffnungsvollen “Also stehen da noch Tempel. Ein Stern hat ja noch Licht. Nichts, nichts ist verloren.”

Es gibt mehrere Gruppen, an die sich meine Arbeit richtet.

Einmal sind das Menschen, die mit Traumatisierten arbeiten. Eine Rückmeldung von einer Therapeutin war, die Texte und Bilder sprächen für sie direkt mit ihren Adern. Diese Perspektive ermöglicht eine weitere Verständnisdimension. Ebenso meine konkrete Erfahrung als Künstlerin, die mit dem Wissen aus der Traumaforschung und meinem Hintergrund als ehemalige Psychiatriemitarbeiterin Prozesse, so glaube ich, in besonderer Intensität zugänglich machen kann.

Eine weitere Gruppe sind natürlich Betroffene selber. Ich kann da wirklich die Fahne der Ermutigung hochhalten, sich immer wieder durch künstlerische Ausdrucksformen mit dem schöpferischen Raum zu verbinden. Gestaltende zu sein ist für mich der stärkste Gegenpol zur Opferohnmacht. Diese Fähigkeit zu kultivieren ist einer der stärksten Genesungsimpulse, die wir jeden Tag setzen können.

Die dritte Gruppe von Adressaten sind Menschen, die Traumatisierten besser verstehen wollen – oder aufgrund verantwortlicher Positionen in unserer Gesellschaft müssen. Es ist auch ein Plädoyer dafür, gerade in den Zeiten der Pandemie als kollektiven Trauma Kunst und Kultur zu stärken. Denn deren Kräfte brauchen wir nicht nur als einzelne, sondern auch als Gesellschaft um mit der Wunde von Corona umzugehen.

Zuerst einmal muss ich sagen, dass ich beides kenne und beides gleichermaßen für gut und sinnvoll halte.

In der kunsttherapeutischen Arbeit lassen wir ja oft etwas aus uns raus fließen und danach wird in der Betrachtung ein größeres Verstehen möglich. Das Werk im engeren Sinne ist weniger von Bedeutung.

In der Kunst ist die Ungefiltertheit des ersten Impulses oft sogar ähnlich. Danach findet jedoch eine Arbeit an der Form statt, die teilweise sehr langwierig ist. Ich vergleiche das mit dem Einkochen eines Fonds für eine gute Soße. Da verdichtet sich etwas, es wird an der Form gearbeitet, man schlüpft mit seinen eigenen Augen in das Auge des Betrachters.

Dadurch löst sich das Kunstwerk von einem los. Es wird sozusagen ein eigenes Geschöpf. Hier erlebe ich die Transformationskräfte von künstlerischer Arbeit besonders stark. Aus der unfreiwilligen Hochzeit mit dem Abgrund entsteht ein Kunstwerk als neues Kind. Das ist für mich eine Berührung mit dem Mysterium von Lebendigkeit schlechthin.

Das ist eine meiner liebsten Fragen für die ich der Fragestellerin besonders danke. Kintsugi ist eine japanische Kunst, zerbrochenes Porzellan zu bearbeiten. Dabei wird nicht versucht, den Riss unsichtbar zu machen, sondern er wird durch Vergoldung extra betont. So entsteht durch den Riss etwas Neues von neuem, oft noch höherem ästhetischen Wert.

In meiner Biografie war eine der tiefgreifendsten Erfahrungen, das alles als schöpferischer Impuls genutzt werden kann. Dass aus etwas, das als zutiefst destruktiv erlebt wird durch einen künstlerischen Akt etwas Neues, Eigenes mit eigenem Wert entstehen kann, ist für mich eines der Mysterien von Schöpfung. Mit dem kommen wir durch die Verbindung von Kunst und Trauma in besonderer Intensität in Kontakt.

Jede Kunst, die aus dem Trauma entsteht, ist für mich Kintsugi: etwas was der Wunde einen neuen, eigenen Wert verleiht.

Frida Kahlo ist für mich die Verkörperung von Risskultur. Durch einen Unfall als Jugendliche war sie fast ihr ganzes Leben gesundheitlich sehr belastet und hat einige Schicksalsschläge erlitten. Von ihrem Krankenbett aus, an dass sie lange Zeit gefesselt war, sind viele ihrer Arbeiten entstanden.

Für mich ist sie eine Ikone dessen, was Kunst ermöglicht: das auch das von uns als destruktiv Erlebte Beginn von einem neuen schöpferischen Prozess sein kann. Das ist die tiefste Transformation, zu der wir Menschen fähig sind.

Ihre künstlerische Arbeit hat sie nicht geheilt in dem Sinne, dass sie beispielsweise dadurch schmerzfrei gewesen wäre. Aber sie hat ihr zeitlebens Zugänge zu diesem inneren Transformationsort ermöglicht. Es war, so würde ich das sagen, ihre stärkste Verbindung zu den Kräften des Lebens selber. Genauso empfinde ich das für mich.