Noli Kat, “Queering Reality”, 2021

Judith Schoßböck: “Something is swimming along”, 2022

140 ODER DAS WUNDER IM BACKSTAGE BEREICH

Über die Ausstellung “CRASH” zu der Erkrankung ME/CFS In Wien, August 2023

Eine Ausstellung als längst überfälliger Öffentlichkeitsschrei

Lassen Sie mich als Erstes das Wichtigste sagen: die Ausstellenden sind in erster Linie Künstler. Sie sind fast alle Künstlerinnen, die an der verheerenden neuroimmunologischen Erkrankung Myalgische Enzephalomyelitis/ Chronic Fatique Syndrom, kurz ME/CFS, erkrankt sind. So schwer erkrankt, dass sie alle Gründe der Welt hätten, ihre Identität als Künstlerinnen zu vergessen. Und trotzdem tun sie es nicht.

Die Ausstellung „CRASH“, organisiert von dem Künstlerduo Judith Schossböck und Matthias Mollner  https://blackferkstudio.com hat viele Ebenen. Zum einen ist sie ein Sichtbarmachen einer Erkrankung, von der so viele betroffen sind, dass Ihre Unsichtbarkeit an einen unbegreiflichen Fleck auf der Netzhaut der Öffentlichkeit denken lässt. Eine Makuladegeneration vielleicht, die etwas ausradiert, was alles andere als selten ist. Es gibt allein in Deutschland mit sehr vorsichtigen Schätzung 500.000 Betroffene, weltweit sind von ME/CFS mehr Menschen betroffen als von Aids und Multiple Sklerose zusammen. Die Ausstellung, die verdichtete Einsichten in die Lebenswirklichkeiten von schwer Betroffenen gibt, die seit Jahren ans Bett gefesselt sind, ist nicht nur längst überfällige Öffentlichkeitsarbeit. Sie ist ein Öffentlichkeitsschrei derjenigen, die in ihrem Betten der Welt entzogen aber nicht verstummt sind.

Alles muss künstlerisches Material sein

Die Kuratorin Judith Schossböck ist eine von ihnen. Seit 2021 ist sie nach einer Covid Immunisierung und einer Liquorpunktion sehr schnell in das Stadium „Severe ME/CFS“ gerutscht und komplett bettgebunden.

Ich bin mild bis moderat betroffen, was immer noch eine unglaubliche Lebenseinschränkung ist, aber mir eine nippende Teilnahme an der Welt ermöglicht, die der anderen Judith entzogen ist. Was uns aber eint ist eine künstlerische Haltung: “Alles muss künstlerisches Material sein”. Das radikale „MUSS“ stammt übrigens von der anderen Judith. Ich hatte es vorher als ein milderes “kann” formuliert, bei dem „MUSS“ jedoch ein inneres Nicken verspürt, was mehr ist als die Köpfchen der Spatzen, die gerade sich um mich herum an Krümeln erfreuen. Wer unter diesen Bedingungen, wie sie die andere Judith und zahlreiche der Ausstellenden jeden Tag erleben, künstlerisch tätig wird, hat die Kraft eines schöpferischen Imperativs in sich.

Das Wunder von 140 und Entintimisierung

Und jetzt kommen wir, um dieses Wunder plastischer zu machen, zu der Zahl 140. Die meisten verbinden mit ME/CFS nur Müdigkeit. Tatsächlich zeigt sich die Erkrankung als eine Hydra mit 140 auf unterschiedliche Weise das Nervensystem folternden Köpfen. Die hat Judith Schossböcks Lebenspartner, Matthias Mollner in einer C-Printarbeit sichtbar gemacht. Wer in die 140 Kacheln des Kunstwerks wirklich eintaucht, begreift das Wunder der schöpferischen Kraft, die ihre Wege durch die Zerstörungswucht der Erkrankung findet. Judith hat sie aus dem Bett heraus in Zeichnungen umgesetzt die teilweise an einen Hieronymus Bosch mit Buntstiften erinnern, zumindest wenn man hinter die stilistische Lebensfröhlichkeit blickt.

Die ganze Verwundung der Intimsphäre wird fühlbar in einer Fotoserie über das Waschen. Wer ein Pflegefall wird, kann nicht sondern muss andere Menschen ohne Wahlmöglichkeit am eigenen Körper teilhaben lassen.

Der inszenierte Körper als Freiheitskörper

Anders als diese fast schmerzhaft ungeschönte Intimität sind die fotografischen Selbstbildnisse von Noli Kat.

Ein Bett als übergroße Haarspange. Die Künstlerin madonnengleich im goldenen Bettzeug, liegend auf einem Märchen, an dem sie nicht teilnimmt. Oder mit einem an die SM-Szene erinnernden schwarzen Ledergeschirr über der weißen Bettdecke. Der inszenierte Körper als Freiheitskörper, dem zwar nicht die Entscheidung auf ein Leben ohne die Krankheit möglich ist, aber der Spielraum der sowohl humorvollen wie auch erzählerischen Selbstinszenierung.

“Was zur Hölle tue ich hier eigentlich?”-Momente als Vision

Eine wieder andere der 23 ausstellenden KünstlerInnen aus aller Welt, Cristina Baltais, zeigt in Collagen ein Rettungssprungtuch als Höllenfeuer. Oft ist tatsächlich der Ausweg aus dem einen Symptom der Eintritt in eine andere Hölle.

Ich denke an die zahllosen Mediziner, die Betroffene als psychisch kranke Simulanten darstellen. An die Sachbearbeiter auf Ämtern, die mit auf verheerender Unkenntnis beruhenden Fehlentscheidungen die existenzielle Not von Menschen vergrößern. Die Gutachter, die Arbeitsfähigkeiten bescheinigen, wo es oft noch nicht mal die Fähigkeit gibt, vom Bett aus eine Netflix Serie anzusehen.

Ich wünsche, dass jeden Tag einige mehr einen “Was zur Hölle tue ich hier eigentlich?”-Moment haben, der Wege zu humaneren Reaktionen öffnet. Aktionen wie die Ausstellung und das begleitende Symposium tragen dazu bei, dass sich der kollektive Nebel, der diese Krankheit so ungesehen macht, lichten kann.

Die sehr lohnenden Vorträge des begleitenden Symposiums mit Vertretern aus Forschung, Kultur, Literatur und der ME/CFS Community findet man hier:
https://www.youtube.com/playlist?list=PLeP-2EJPHJRupjtbo4NkKTBstHYCXQs1Z

Es ist eine Ausstellung, die viel Verzweiflung transportiert. Und gleichzeitig ermutigt, wenn wir uns nicht erschreckt zurückziehen, sondern auf das feine Gewisper im Backstage-Bereich lauschen: “Alles kann, darf, muss schöpferisches Material sein.”

Die Ausstellenden haben trotz allem nie aufgehört, Künstler zu sein.

(c) Judith de Gavarelli, September 2023

140 ODER DAS WUNDER IM BACKSTAGE BEREICH

Über die Ausstellung “CRASH” zu der Erkrankung ME/CFS In Wien, August 2023

Eine Ausstellung als längst überfälliger Öffentlichkeitsschrei

Lassen Sie mich als Erstes das Wichtigste sagen: die Ausstellenden sind in erster Linie Künstler. Sie sind fast alle Künstlerinnen, die an der verheerenden neuroimmunologischen Erkrankung Myalgische Enzephalomyelitis/ Chronic Fatique Syndrom, kurz ME/CFS, erkrankt sind. So schwer erkrankt, dass sie alle Gründe der Welt hätten, ihre Identität als Künstlerinnen zu vergessen. Und trotzdem tun sie es nicht.

Die Ausstellung „CRASH“, organisiert von dem Künstlerduo Judith Schossböck und Matthias Mollner https://blackferkstudio.com/ hat viele Ebenen. Zum einen ist sie ein Sichtbarmachen einer Erkrankung, von der so viele betroffen sind, dass Ihre Unsichtbarkeit an einen unbegreiflichen Fleck auf der Netzhaut der Öffentlichkeit denken lässt. Eine Makuladegeneration vielleicht, die etwas ausradiert, was alles andere als selten ist. Es gibt allein in Deutschland mit sehr vorsichtigen Schätzung 500.000 Betroffene, weltweit sind von ME/CFS mehr Menschen betroffen als von Aids und Multiple Sklerose zusammen. Die Ausstellung, die verdichtete Einsichten in die Lebenswirklichkeiten von schwer Betroffenen gibt, die seit Jahren ans Bett gefesselt sind, ist nicht nur längst überfällige Öffentlichkeitsarbeit. Sie ist ein Öffentlichkeitsschrei derjenigen, die in ihrem Betten der Welt entzogen aber nicht verstummt sind.

Alles muss künstlerisches Material sein

Die Kuratorin Judith Schossböck ist eine von ihnen. Seit 2021 ist sie nach einer Covid Immunisierung und einer Liquorpunktion sehr schnell in das Stadium „Severe ME/CFS“ gerutscht und komplett bettgebunden.

Ich bin mild bis moderat betroffen, was immer noch eine unglaubliche Lebenseinschränkung ist, aber mir eine nippende Teilnahme an der Welt ermöglicht, die der anderen Judith entzogen ist. Was uns aber eint ist eine künstlerische Haltung: “Alles muss künstlerisches Material sein”. Das radikale „MUSS“ stammt übrigens von der anderen Judith. Ich hatte es vorher als ein milderes “kann” formuliert, bei dem „MUSS“ jedoch ein inneres Nicken verspürt, was mehr ist als die Köpfchen der Spatzen, die gerade sich um mich herum an Krümeln erfreuen. Wer unter diesen Bedingungen, wie sie die andere Judith und zahlreiche der Ausstellenden jeden Tag erleben, künstlerisch tätig wird, hat die Kraft eines schöpferischen Imperativs in sich.

Das Wunder von 140 und Entintimisierung

Und jetzt kommen wir, um dieses Wunder plastischer zu machen, zu der Zahl 140. Die meisten verbinden mit ME/CFS nur Müdigkeit. Tatsächlich zeigt sich die Erkrankung als eine Hydra mit 140 auf unterschiedliche Weise das Nervensystem folternden Köpfen. Die hat Judith Schossböcks Lebenspartner, Matthias Mollner in einer C-Printarbeit sichtbar gemacht. Wer in die 140 Kacheln des Kunstwerks wirklich eintaucht, begreift das Wunder der schöpferischen Kraft, die ihre Wege durch die Zerstörungswucht der Erkrankung findet. Judith hat sie aus dem Bett heraus in Zeichnungen umgesetzt die teilweise an einen Hieronymus Bosch mit Buntstiften erinnern, zumindest wenn man hinter die stilistische Lebensfröhlichkeit blickt.

Die ganze Verwundung der Intimsphäre wird fühlbar in einer Fotoserie über das Waschen. Wer ein Pflegefall wird, kann nicht sondern muss andere Menschen ohne Wahlmöglichkeit am eigenen Körper teilhaben lassen.

Der inszenierte Körper als Freiheitskörper

Anders als diese fast schmerzhaft ungeschönte Intimität sind die fotografischen Selbstbildnisse von Noli Kat.

Ein Bett als übergroße Haarspange. Die Künstlerin madonnengleich im goldenen Bettzeug, liegend auf einem Märchen, an dem sie nicht teilnimmt. Oder mit einem an die SM-Szene erinnernden schwarzen Ledergeschirr über der weißen Bettdecke. Der inszenierte Körper als Freiheitskörper, dem zwar nicht die Entscheidung auf ein Leben ohne die Krankheit möglich ist, aber der Spielraum der sowohl humorvollen wie auch erzählerischen Selbstinszenierung.

“Was zur Hölle tue ich hier eigentlich?”-Momente als Vision

Eine wieder andere der 23 ausstellenden KünstlerInnen aus aller Welt zeigt in Collagen ein Rettungssprungtuch als Höllenfeuer. Oft ist tatsächlich der Ausweg aus dem einen Symptom der Eintritt in eine andere Hölle.

Ich denke an die zahllosen Mediziner, die Betroffene als psychisch kranke Simulanten darstellen. An die Sachbearbeiter auf Ämtern, die mit auf verheerender Unkenntnis beruhenden Fehlentscheidungen die existenzielle Not von Menschen vergrößern. Die Gutachter, die Arbeitsfähigkeiten bescheinigen, wo es oft noch nicht mal die Fähigkeit gibt, vom Bett aus eine Netflix Serie anzusehen.

Ich wünsche, dass jeden Tag einige mehr einen “Was zur Hölle tue ich hier eigentlich?”-Moment haben, der Wege zu humaneren Reaktionen öffnet. Aktionen wie die Ausstellung und das begleitende Symposium tragen dazu bei, dass sich der kollektive Nebel, der diese Krankheit so ungesehen macht, lichten kann.

Die sehr lohnenden Vorträge des begleitenden Symposiums mit Vertretern aus Forschung, Kultur, Literatur und der ME/CFS Community findet man hier:
https://www.youtube.com/playlist?list=PLeP-2EJPHJRupjtbo4NkKTBstHYCXQs1Z

Es ist eine Ausstellung, die viel Verzweiflung transportiert. Und gleichzeitig ermutigt, wenn wir uns nicht erschreckt zurückziehen, sondern auf das feine Gewisper im Backstage-Bereich lauschen: “Alles kann, darf, muss schöpferisches Material sein.”

Die Ausstellenden haben trotz allem nie aufgehört, Künstler zu sein.

(c) Judith de Gavarelli, September 2023

Mathias Mollner, Der Tag Die Nacht, 2022

Protestkundgebung der österreichischen Gesellschaft für ME/CFS

Mathias Mollner, 140+, 2022

Cristina Baltais, Security Blanket, 2022