DAS ROSENKISSENMAEDCHEN UND WERK OHNE AUTHOR

Wie Kunst auch ungewußtes Trauma bezeugen kann

Aufforderung zur Zeugenschaft

Sind wir Zeugen vor Gericht, können wir diese Einladung nicht ablehnen wie ein “Lass uns doch mal wieder Kaffee trinken gehen.” von jemandem, mit dem wir gar nicht so gerne Kaffee trinken gehen wollen. Die Aufforderung zur Zeugenschaft fällt in unser Leben ein als etwas Zwingendes.  In unserem Leben kann die Aufforderung zur Zeugenschaft manchmal auf verschlungenen, etwas weniger offensichtlichen Wegen erscheinen als eine Vorladung bei Gericht.

Die Bilderserie MERGE und “Werk ohne Autor”

2007. In den Novemberstürmen war ich alleine in den Höhenlagen La Palmas, das erste Mal für eine längere Zeit. In diesen Wochen drängte sich mit der gleichen Unablehnbarkeit wie eine Gerichtsvorladung ein mir für lange Jahre rätselhaftes Kunstprojekt auf: ich begann mich mit den Gesichtern von Opfern von Frauengewalt und ihre Täterinnen zu beschäftigen. (Zur Bildserie MERGE) Obwohl ich die Serie von arbeiten aus künstlerischen Gesichtspunkten absolut bejahen konnte, war ich doch peinlich berührt und habe sie nur selten Menschen gezeigt. Mehr als zehn Jahre später erfuhr ich, dass ein geistig behinderter Großonkel im Nationalsozialismus bei Medizinversuchen von Frauen ermordet wurde, wie das in den entsprechenden Heimen in den späten Kriegsjahren üblich war. (Zur Geschichte “Das Rosenkissenmädchen und der Kindonkel) Noch später begriff ich, dass sich die Aufforderung, weiblicher Täterschaft in den medizinischen Institutionen des Nationalsozialismus in ähnlicher Weise in meine Bildwelten gedrängt hatte wie die Gewalt gegenüber psychisch Kranken sich im Film “Werk ohne Autor” in die Bilder von Gerhard Richter drängte. Trotz der berechtigten Kritik von Gerhard Richter selber: erst durch den Film von Florian Henkel von Donnersberg begriff ich, dass Kunst mit der ihr eigenen Unschärfe auch das bezeugen kann, was unserem expliziten Bewusstsein noch gar nicht zugänglich ist.

Kunst und Literatur: dem Sprachlosen eine Stimme geben

Auch wenn sie Veröffentlichung der Bilder lange Zeit überlagert war von den Folgen, die dieser fundamentaleres im Vertrauen zu Helferpersonen in unserer Familie über mehrere Generationen hatte, begriff ich irgendwann, den gleichzeitig persönlichen und überpersönlichen Charakter der Bilder. Im Grunde wusste ich vom ersten Augenblick an, wie wichtig es war, diesen häufig aufgrund ihrer Behinderung, ihres Alters oder Erkrankung sprachunfähigen Namenlosen ein Gesicht und eine Stimme zu geben. Trotzdem ist mein Verhältnis nach wie vor ambivalent.

Man made Trauma vs Naturkatastrophe: Bezeugung des Vulkanausbruchs von La Palma 2021

Wie viel einfacher ist meine Zeuginnenschaft bei der Vulkankatastrophe von La Palma 2021. Auch hier haben wir es mit einer Gewalt zu tun, der die Menschen hier nichts entgegenzusetzen hatten. Auch das braucht warme Zeugenaugen, Würdigungen von Kraft, Not und Empfindungen. Aber die Absichtslosigkeit einer Naturkatastrophe hat gegenüber dem Abgrund menschlicher Grausamkeit etwas seltsam Tröstliches. Gerade wegen der schreckstarren Trostlosigkeit menschlicher Gewalt ist, so wurde mir vor einigen Tagen wieder einmal bewusst, unsere mitfühlende Zeuginnenschaft da so wichtig. Auch eine, die sich mit Bildern, Klängen und Worten in die Zonen dieser Verstörung vorwagt, die eher einer Implosion als der Explosion eines Vulkans ähneln. So wie wir einen Wärmestrom in den Kammern unserer inneren Häuser brauchen, der auch dissoziierte Räume durchziehen kann, so brauchen wir das in dem großen Haus, dass unsere Gesellschaft darstellt auch.

Mitfühlende Zeugenschaft heißt gefrorene kann man wieder an den Wärmestrom von Lebendigkeit anzubinden. Auch wenn wir uns oft wünschen mögen, es wäre nicht, was ist.

(c) Judith de Gavarelli Juli 2022