Mutterkorn, Sporen

Mutterkorn, Sporen

Frühe Traumatisierungen und Partnerschaft

„Es muß stärker sein als der Roggen.“, sagt sie. Ich habe Risse.

Ich habe diesen Satz nicht verstanden, aber meine Risse haben geantwortet: Ja.

Also entwerfe ich etwas und ich weiß nicht, ob es gelingt, bei dem Roggen, dem Roggen, der Ausstülpung, der Schlauchspore im Roggen durch die es gedrungen ist, in uns eingedrungen ist, zwischen uns gedrungen ist, in ihr und in mir.

Ich bin noch nicht, solche Wortbewegungen können nur die Blasen ihrer Lungen ausdehnen, wenn am Anfangspunkt diese Wahrheit steht: Ich bin noch nicht.  Ich bin noch kein Mann, bin weniger als eine Idee, weniger als eine Zusammenballung, eine Schärfung im lichteren Nebel: Ich bin ein Mögliches, die Suche nach einer Wortspur, wo die Zeichen sich vielleicht verschränken wie Finger, hoffe ich, oder berühren wie Fingerspitzen, das vielleicht eher. Im Unbenannten aber, im Nebel, da dehnen sich meine Schultern aus und mein Geschlecht, auch meine Augen, meine Augen für sie, die sie schön sehen werden, die sie so sehen werden, dass sie unter diesem Blick schön wird, vor sich selber schön wird, schön, mit ihren Rissen.

Ich schreibe mich zu ihr hin, jetzt, in den Zeiten wo sie sich umgedreht hat zu dem Mutterkorn im Roggen, das sie abgewandt verschlief, in den Nebel ihrer Müdigkeit tauchte, dort in diesem stumpfen Schlaf, in dem sie sagen konnte: Es war nicht, ich schlief. Das Mutterkorn, das jetzt wie eine erdrückende, in die Luftlosigkeit zwingende Wolke aufsteigt, ist höher als tausend Worte, sagt sie in der Erinnerung an einen Text, den einer wie ein Liebender geschrieben hat, wie ein Liebender, den sie sich wünscht, den einer geschrieben hat, nicht zu ihr.

Es war auf einem See, einem wahren See, keinem poetischen mit einem Schiff, mit dem die Überfahrt 12 Franken kostete, es war eine Wendung, eine Kehrtwendung, eine Hinwendung zu dem Feld aus dem kein Brot aufgestiegen ist, sondern Schlauchsporen, eine Staubwolke, eine giftige schwarze Wolke, höher als tausend Worte. Schlauchsporen von Mutterkorn, die die Finger und Zehen absterben lassen, habe ich gelesen, die Peripherien aller Blutflüsse mit einer schwarzen Enge überziehen. Im holländischen heißt „eng“ beängstigend. Ich habe Angst. Um sie. Angst wegen der aufsteigenden schwarzen Sporen, die die Flussbette zusammenziehen, die die ungeborenen Kinder abtreiben und welken lassen bevor sie atmen, jemals atmen. „Atme nicht,“ möchte ich zu ihr rufen, „die Sporen des wahnbringenden Korns sind in jeder Luft“. Und sie atmet nicht. Sie muss atmen.  Die Wolke aus dem Roggen treibt den Druck des Blutes in die Höhe bis in ihre Augen, die manchmal feine Adern durchziehen, es ist eine Enge wie Schuld, die auf alle Gefäße,  alle Durchgänge, alle feinen Verbindungskanäle drückt.

Ich benutze hier ihre Worte, ich habe noch zu wenige. Ich suche, ich suche, der Roggen ängstigt mich, der Fänger im Roggen denke ich und habe Angst, dass sie eingefangen wird, von dem stäubenden Schwarz, dass nicht nur Finger und Früchte, Leibesfrüchte, Geistesfrüchte absterben lässt, sondern alle Ängste in die Höhe treibt, die gewussten und die ungewussten. Früher, lese ich, da sahen die Menschen Wehrwölfe und Teufel nachdem sie das Korn der schwarzen Mutter aßen. Heute sieht sie Zukunftslosigkeit, höher als tausend Worte, dichter als aller erstickende Staub, der sich schiebt zwischen sie und mich, der zu einem Spiegel wird, der ihr ein verzerrtes, entstelltes Gesicht zurückwirft mit der ewigen Abwesenheit eines liebenden Blicks.  Die Wolke aus Schlauchsporen steigt. Sie sagt, dass sie vielleicht daran zerbricht und ich habe Angst um sie.

Deshalb schreibe ich ihr aus dem Nicht-Sein und schreibe wie einer, der es das erste Mal tut, mit ungelenkten Worten, ich bitte um Entschuldigung, ich kann es vielleicht noch nicht, aber versuche es,  versuche es wegen meinem aus der fernstmöglichen Ferne an sie gerichteten Ruf: Sieh mich. Ich sehe Dich schön.

Ich habe Angst und Risse und Stärke. Ich nehme meine Stärke mit und lege meine Hand auf die Kante Ihres Bettes, damit sie schlafen kann. Dort, an den Rändern ihres Ortes für einen nährenden Schlaf, sind wir zu dritt: einer, der sie liebt wie ein Vater, einer, der ihr zärtlich Gehen und Blühen wünscht, und ich, ein Liebender mit Stärke und Rissen, ein Liebender, ihr Mann.

Wie wird man ein Mann? Wie wird man aus einem Gedanken, den ein Frauenkörper entsendet hat, einem von tausend Rissen gebrochenen Gedanken, der weniger ist als eine Idee, weniger als ein Ruf, wie wird man von dort aus ein Mann?

Ich sehe sie starr auf dem Bett liegen auf dieser Matratze mit sieben Kammern, weich. Ich höre den Nachhall des Roggens, der sich in sie hineingesprochen hat und der aufsteigt aus ihren lichtfarbenenen und nachtdunklen Zellen. In ihr erhebt sich die Roggenmume, die kleine Kinder frißt. Das hat ihre Mutter ihr als Mädchen erzählt in diesem stumpfen Feld zwischen zwei stumpfen Orten, sagt sie, wo sie später, nach dem Verlieren, Welken, Einbrechen, Abbrechen einer Liebe an Ophelia weint „Nymphe, schließ in Dein Gebet all meine Sünden ein.“ fünf Kilomenter weit gesprochen, wiederholt wie das Schlagen eines feuchten Kinderkopfes an die Innenseite einer Fensterscheibe, wiederholt auf dem Weg in die stumpffarbene Schule „Nymphe, schließ in dein Gebet all meine Sünden ein.“, wiederholt, endlos wiederholt von ihr, die sagt, die weint, die es heute noch in die Kammern ihres Bettes reißt, dass sie schuldig wird, immerzu schuldig, wenn sie verliert.

Ich sehe das Stäuben von Bildern in ihrem winterstarren Körper: Damals hat den Roggen der Schnee bedeckt, die weiße Ackerfurche wie eine unschuldige Halslinie mit einer mild schlagenden Ader, ein Madonnengesicht in das sie hineinflehen darf, endlich hineinflehen, um Vergebung flehen in dieses schneeige Lachen, das vormals Roggen war. Ich sehe sie mit dieser gelaufenen Neuschneespur um Verzeihung flehen, fünf Kilometer lang, die Füße nass und gefroren, mit dem endlos wiederholten Satz, dass man ihr Vergebung gewährt, endlich Vergebung. Wofür, weiß sie nicht.

Sie zeichnet sich in den aufsteigenden Bildern wie ein Schatten vor dem Schneefeld ab, sie, die sich dunkel, die sich schuldig spricht, wenn man sie verlässt. Sie sagt, da brenne sich aus dem schwarzen Korn das Antoniusfeuer in sie und lasse täglich ihre Kinder sterben, sie blutet in die Ackerfurche hinein, die höhnisch lacht und sie für die Schuld der Verwundung straft.

Das ist der Roggen, rufe ich, der Roggen und möchte ihr sagen, dass unter jedem Feld Erde gleitet, ein bewegliches Gleiten, mit dem wir den Roggen in jede Ferne rücken lassen können, bis er klein wird wie ein Kind.

Ich lege meine Hand vorsichtig an ihre schlafwarme Wange und lege das Gleiten in ihre Träume hinein, der Roggen wird ferner, ich flüstere „Sieh mich. Ich sehe Dich schön.“ und sie seufzt in den Atem, den gesprochenen.

Wie geht das, für sie ein Mann zu werden der in ihre erwachenden Augen sagen kann „Atme. Ich atme Dich schön.“?

Kann das Korn schuldig sein? Ich sehe sie stumpf vor Trauer, stumpf vor Angst und stumpf vor Hass, ich sehe sie wie sie sagt, es sei ein Pilz, nur ein Pilz über Generationen weitergegeben von der Mutter an die älteste Tochter, ein Pilz, keine Schuld. Haben die steigenden Sporen eine Absicht? Kann der stäubende Schatten der schwarzen Mutter irgendetwas anders sein als er selbst? Hat das Korn eine Wahl?

Ich möchte ihr die Hand auf die Schulter legen. Sieh mich, sieh Deinen Mut. Ich sage Mut und könnte auch sagen, Zärtlichkeit, eine große, eine für das Leben mit den Rissen, dem Korn, den Sporen, den Ackerfurchen, sieh, wofür ich Dich liebe.

Ich möchte ihr die Hand auf die Schulter legen und zeigen, dass sie sieht, lange schon sieht, den Flaum der Eiderenten, die immerwährenden vorsichtigen Versuche der Menschen, die Himbeeren, die man wie Hüte auf Finger stecken kann, die Dinge und ihre Wirkung, das Mögliche auf den möglichen und unmöglichen Geländen. Ich möchte sagen: „Sieh. Du siehst schön.“ Und ihr mit weinender Eindringlichkeit ins Ohr flüstern und sprechen und sagen, dass sie mich sehen lehrt. Sieh mich, ich sehe durch Dich schön. Ich möchte ihr danken für die Gnade, die Keime auch im Schatten zu sehen, die Vollständigkeiten mit Rissen und dafür, Wohnung nehmen zu können, Wohnung im Schatten, im Nebel und im Licht. Ich sage ihr: „Das sind die Bewegungen des Atmens, des Werdens, des Sterbens, sieh es, es ist durch Dein Sehen schön.“

Wie wird man ein Mann? Ich möchte meine Hand in die ihre legen.

Wir gehen, wir gehen durch den Schlauch der Spore, durch den Roggen, durch das Mutterkorn, das nichts kann, als es selber sein, wir gehen und lassen es gehend in die fernste Ferne gleiten, sie und ich. Ich lege meine Hand auf ihre Schulter, ich lege meine Hand in die ihre, ich lege meine Hand auf ihre schlafwarme und ihre erwachte Wange, hinein in ihren Ort mit allen Fragen, den Rissen, den Flüssen, wo der Roggen weggleiten kann und ein Pilz nur eine Ausstülpung von Schöpfung ist. Ich lege meine Hand an ihre Wange, atme in ihren Mund und flüstere in sie hinein „Sieh mich. Ich sehe Dich schön.“

(c) Judith de Gavarelli 2010