Caput mortuum

Caput mortuum

Über Vergangenes und Totes, das in unserem Nervensystem geisternd auf Erlösung wartet

Die Farbe heißt Caput mortuum, die Häupter der Toten. Das ist mir egal, ich habe nur gelernt es aufzuschreiben, wie ich gelernt habe, die Steine zu zählen. Ach, was sage ich, ich zähle keine Steine, ich nähe, eine Hose, sie ist gefärbt. Caput mortuum, das spreche ich noch einmal aus, ein dunkler Ball vor meinem Mund, für den einer vielleicht das Wort blutdunkel finden könnte, Koagel, Zusammenballungen. Mir ist es egal. Ich lasse ihn nur von meinen Händen gleiten, dahin, auf den Boden, er ist leicht schmutzig aber hell. Man sieht die verlegten Platten, die Saumnähte, hier ist kein visköses Geklumpe.

Über den Boden kriechen die Toten. Natürlich tun sie das nicht. Ihre schleichende Bewegung ist kaum zu sehen. Sie möchten schlafen, endlich. Natürlich ist da nichts.

Ich bin der Kunst dankbar, dass ich von Geistern schreiben kann, die es gibt und nicht gibt, da, hier, zur gleichen Zeit. In der Kunst bin ich dankbar für dieses Rätsel.

Ich glaube nicht an Gespenster, das muss einmal gesagt werden. Aber hier, wo ich den Unterarm über die unfertigen Stoffteile gleiten lasse, Caput mortuum, die Farbe, die ich so oft sagen darf, wie ich es will. Hier, wo ich sie mit einem nur ganz kleinen Abstand gleiten lasse, damit die Wärme noch zwischen Stoff und Arm zirkuliert, hier, wo ich die Zehen, die Füße in den Stiefelchen, den ein wenig hart aussehenden, zum Sprung, zum Klettern, zum Laufen ansetzenden Stiefelchen bewege, hier, wo sich meine Mundhöhle mit Feuchtigkeit füllt und ich die ungefärbten, sich weiß ins Auge drückenden Nähte der Hose löse und neue webe in der Farbe von dunklem Fleisch, hier darf ich sagen: Sie sind nicht fort.

Denn hier darf ich von allem reden. Davon, dass sie kriechen, auch wenn sie es nicht tun, natürlich nicht, niemand, der bei Trost, zum Trost, müde und hungrig nach dem ausbleibenden Trost ist würde das glauben, ich auch nicht.

Und doch darf ich sagen: sie kriechen hier, in der Metapher, die sich um den Absatz zur Küche hin windet, ich habe eine offene, das ist schick.

Hier, an diesem Ort, darf ich getrost sagen: es ist mir ein Rätsel. Und: Die Toten leben in uns fort.

Ja, ich darf diesen Satz mit einem Atem aus der Mundhöhle strömen lassen, leicht, beim Einatmen etwas kühl, beim Ausatmen wärmer. Ich muss mich nicht um seine Wahrheit bemühen, höchstens um das leicht seinen Mund verziehende Lachen der Form, wenn die Wörter zu groß werden, die Toten, ich habe sie gerne beweglich und klein. Das ist die Wahrheit.  Aber ich brauche mich in keiner Weise darum zu bemühen, ob es die Schatten, den Staub, die Verdichtung von etwas gibt, was hier kriecht, müde, ich nenne es die Häupter der Toten, der Name einer Farbe, ein pudriges Pigment, heute die Farbe einer Hose, das ist banal. Ich brauche mich nicht zu bemühen ob es sie gibt wie den Stuhl, den Tisch, die Küche aus leicht angekalktem Edelstahl, im Baumarkt war sie günstig und manchmal schmeckt das Wasser leicht nach Gummi, nur der erste Strahl. Ich brauche mich nicht zu bemühen um das wissen, ob es sie gibt wie Stuhl, Tisch und Küche: ihre Form kann ich in der Kunst ohne das Wissen bewegen, das kann ich und ich tue es  auch, einfach, wie ich den Atem aus dem feuchten Mund strömen lasse. Mit schiefem Mund würde ich vielleicht sagen: das ist ein Geschenk, ich tue es auch, auf dem Papier, da lasse ich es in Klammern stehen, etwas, was später vielleicht ausradiert werden muss: ein großes Wort.

Dahinter, bei den kleinen Wörtern, die dem leisen, dem nur zaghaft in die Luft gesendeten, vorsichtigen Atem folgen, dahinter sehe ich die Toten aufsteigen, das sage ich so, aus einem grauen Kind aufsteigen, das sage ich mit einem Ausatmen, das leicht ist, ein milder Atem, ein leichtes Wort. Ich höre sie lachen, es ist ein hässliches Lachen der höhnischen Geister, die müden gibt es auch. Sie kriechen, es ist still, wenn sie sich bewegen, still. Es ist auch still, wenn die grauen Kinder kriechen, auf dem Boden sind manchmal Staubmäuse, das ist egal. Es ist still, wenn sie sich bewegen, fort von dem Lachen, sie bewegen sich: ein müder Tod. Müde, verwundete Überreste, die schlafen wollen, schlafen, Reste von etwas Totem, hier, in meinem Haus, die sich schlängeln, winden und hilflos kriechen. Mit den großen Wörtern würde ich vielleicht sagen: „Bitte erlöse mich“, ich würde das sagen als etwas, was sie sagen könnten, die hilflosen Gespenster, die müden, die toten, die nicht toten Toten. Ich tue es nicht, aber es wäre vielleicht, etwas, das sein könnte, etwas, das so spräche, wenn sie sich hilflos großer Wörter bedienen würden, etwas, mit dem sie wieder und wieder an den Kanten der Küchen, an den aufgetrennten, nach neuer Sprache rufenden Nähten, erschöpft aus den kriechenden Schatten der Fußböden rufen würden:

Erlöse mich. Lass mich schlafen. Caput mortuum. Die Toten leben fort.

(c) Judith de Gavarelli 2011