Das Geschenk der weißen Zeit
Das Geschenk der weißen Zeit
Wieso wir für die Resilienz der Kreativität einen unbeschriebenen Raum brauchen
Wenn man versucht, einen offenen, noch ungefüllten Zeitrahmen abzutasten, greift man in einen Raum.
Einen leeren Raum, einen noch leeren Raum, vielleicht einen weißen.
Man weiß, dass diese Weiße aufhört, abbricht an den Rändern dieses Zeitraums, wo dann vielleicht das Treffen mit Freunden zum Pizzaessen steht, eine lebendige Buntheit. Vielleicht steht dort auch das Grau-Schwarz-Weiß eines Besuchs beim Steuerberater. Ihm fehlen noch Belege, Bewirtungsbelege vielleicht, Belege verbrauchter Zeit.
Das wartet an der Rändern.
Bis dorthin ist die Zeit eine andere, ein ungefüllter Zeitraum. Man könnte sich vorstellen, dass er drei Stunden beträgt, oder dreißig Minuten oder auch drei Wochen. Vielleicht möchte man in ihm etwas entdecken, was man noch nicht kennt, nicht so kennt wie das Pizzaessen oder den Steuerberater.
Wenn man in den weißen Zeitraum hineingeht ist das Nicht-Wissen genauso von Bedeutung wie das Wissen in den Zeiten hinter seinen Rändern. Es ist gut zu wissen wo es eine Pizzeria gibt, oder ob die Calzone besser ist als Quatro stagionie. Und noch besser ist es zu wissen wie man einen Bewirtungsbeleg ausfüllt, damit man nicht ein weiteres Mal in die Grau-Schwarz-Weiße Zeit des Steuerberaters laufen muss.
In der weißen Zeit muss man nicht wissen. Man muss nicht vorher wissen, sondern hineingehen, sich vorsichtig bewegend, wartend, was sich aus ihr herausschält. Es ist vielleicht etwas, was zu Beginn der weißen Zeit nur wie eine Schliere im Nebel zu sehen ist, eine kleine Verdichtung in der wartenden Unschärfe. Das ist möglich, ebenso wie es möglich ist, das sich etwas Konkretes aus dieser Verdichtung hervorwölbt, wenn man sich vorsichtig tastend auf sie zu bewegt, auf diese Form in diesem ungefüllten Zeitraum.
Manchmal muss man auch einen ersten Strich auf das weiße Papier machen, eine erste Bewegung in die wartende, noch nicht durch vorgegebene Bewegungen fragmentierte Luft. Manchmal muss man sich auch einfach hineinfallen lassen, in das milchige Meer, das von da bis dort reicht, in der Zeit wo der Raum weiß ist, weiß sein darf.
Vielleicht darf er gerade dadurch weiß sein, dass er es an seinen Rändern nicht ist. Die weiße Zeit brauchte Wände, Wände oder vielleicht eher Häute. Sie braucht auf jeden Fall irgendetwas, eine Grenze, die die Weiße von den Grau-Schwarz-Weißen Stunden der Steuerbelege oder auch dem Bunten trennt, das sich in die weiße Zeit hineinfressen , sickern oder hineinstürzen möchte. Damit sich aber aus den Schlieren, den Verdichtungen in der Weiße etwas formen kann, was noch nicht gedacht, gekannt, entdeckt oder entwickelt ist, braucht es den Rahmen. Hier, bei diesem Rahmen, ist die Grenze zwischen der Zeit des bestimmten Etwas zur Zeit des noch unbestimmten Nicht-Etwas, des noch nicht definiertem weißen Raums. Diese Grenze ist der erste Schritt.
Vor mir bewegen sich Palmwedel, grün oder gelb gefiedert, nickend. Sie würden vielleicht weniger nicken, wenn ich diesen Raum nicht gegrenzt hätte zu dem, wo ich die Bewirtungsbelege noch um eine Reisekostenaufstellung ergänzen muss. Sie würden sich natürlich schon irgendwie bewegen, aber sie würden nicht in meinem Bewusstsein nicken, nicht so, wie sie es jetzt tun. Sie würden nicht gesehen werden von mir während ihrem Nicken, mit dem sie sich abheben vom diesigen Himmel, der ohne erkennbaren Übergang ins Meer sickert. Die weiße Zeit ermöglicht es, dass ich eine Hintergrundbewegung, die sonst irgendwo am Rande meines Fokus auf Belege und Abrechnungen vorhanden wäre, als ein fedriges Nicken entdecke. Eines, das sich in mir abbildet, eine Erinnerung an diese Zeit. Eine durch den weißen Raum entdeckte gefiederte Bejahung, die genauso zu einem neuen, noch unbegangenem Pfad in meinen Synapsengespinsten werden kann wie die Bilder von meinem Patenkind. Die kleinen Hände, die über die Tasten des Laptops huschen. Sehr kleine Hände, die meinen ähneln. Meine hopsen und hacken eher auf den Buchstaben, picken sich in die schwarzen Plastikquadrate hinein. Ihre fliegen, gleiten und huschen – ich hätte das nicht gekonnt mit Dreizehn.
Und das Licht, das sich auf ihren Wangen spiegelt, wo die Haut so glatt ist und man immer ein Grinsen ahnt, selbst wenn man ihren Mund nicht sieht. Ohne den weißen, weiß gehaltenen Raum gäbe es das vielleicht auch, natürlich, irgendwo wären da tippende Hände und Wangen. Aber sie würden viel weniger von mir gesehen, würden sich viel weniger auf den Weg von meinen Augen in mein Sprachzentrum machen, hätten viel weniger die Möglichkeit, sich in diesem Text einzunisten. In diesem sich aus dem weißen Raum heraus bewegenden Text und in einem kleinen, warmen Ort in mir.
(Judith de Gavarelli, 2018)