Das Rosenkissenmädchen und der Kindonkel
Das Rosenkissenmädchen und der Kindonkel
Transgenerative Weitergabe von Kriegstraumata – ein zeitreisendes Plädoyer für unsere Menschlichkeit und ein Sprechen ohne Spaltung
Ende 1944. Drei kleine Kinder. Drei, zwei, fünf Jahre alt. Das erste mit einem beigefarbenen Kissen mit aufgestickten Röschen, 25 x 25 cm Geborgenheit. Drumherum ein Zugabteil, dunkel, die Lichter ausgeschaltet. Lichtloses Rattern, damit der Zug kein Ziel für die fallenden Bomben ist. Eingebettet in dieses Drumherum: eine auf diesen Moment, auf das Durchkommen von allem in diesem Moment fokussierte Mutter, ihr gehbehinderter Vater, Arthritis von der Arbeit in den Gruben. Und dann ihr Bruder. Geistig behindert, ein Kind im Körper eines jungen Mannes. Ein viertes Kind.
Das Mädchen mit dem Rosenkissen hat zu den Blumen aus Garn passende rote Haare und Male auf heller Haut, Sommersprossen. Der Zug rattert, manchmal steht er still, immer noch besser als der Gang zu Fuß, der kranke Großvater im Bollerwagen, drei kleine Kinder auf der Flucht durch die Winterlandschaft vom Rheinland in die Ems Region. Dort gibt es Bauern, eine Zuflucht vor den Bomben, die um das Haus gefallen sind, immer öfter. Das kleine Mädchen weiß noch nicht, dass es sein Leben lang alles verschlingende Angst vor Enge und Dunkelheit haben wird, eine Angst die aus den Momenten geboren wurde, wo man es gegen die Schläge der Bomben in eine Kartoffelkiste legte, im Kriechkeller. Doppelte Dunkelheit, es sollte ihm nichts passieren. Das Mädchen glaubt noch in dieser ratternden Nacht mit dem Stahlgezische und Getöse, dass die Menschen, die kommen, Hilfe und Rosenkissen bringen. Für Sie, die anderen Kinder und den kindlichen Onkel, den Kindonkel, Jakob heißt er. Jakob, eine Kinderseele im Körper eines kräftigen jungen Mannes, eine Saugglockengeburt.
Der Kindonkel wird von denen im Abteil geliebt und von denen außerhalb des Abteils nicht. Eine Gefährdung der Volksgesundheit, heißt es. Davon weiß das Mädchen nichts. Es weiß, dass der Kindonkel dazu gehört. Es weiß auch, dass Menschen die kommen bei den Schlägen des Getöses am Himmel, gekommen sind um einem zu helfen. Es glaubt das, weil es nicht anders kann so wie der Kindonkel auch keine Wahl hat etwas anderes zu sein als der Kindonkel, zu wenig Sauerstoff bei der Geburt.
Die Bomben zischen, der Knall kommt später. Der große Knall auch, der, der sich mehr in die Zellen des Rosenkissenmädchens eingräbt als die vom Himmel fallenden Explosionen. Er kommt mit weißen Hauben, ein Wunder wie die diese Farbe behalten, in dieser Zeit. Auf dem Weiß ein rotes Kreuz. Krankenschwestern. Geschwister, ältere Schwestern für Schwache, die so glauben die Menschen um das Mädchen, gekommen sind um zu helfen. Vielleicht Wasser zu bringen, das ist rar. Der Kindonkel denkt nichts, er weiß nur dass er zu den Menschen im Abteil dazu gehört und dass sie ihn lieben.
Die Schwestern mit dem roten Kreuz, wissen mit Teilen, die ihrem Kinderverstand eingehämmert wurden, dass die Kinderseele in dem Jungmann Körper eine Gefahr für die Volksgesundheit ist. Schwächung über Generationen für die Gesundheit dieses Volkes, dass sie das ihre nennen, wichtiger als sie selbst. Sie glauben das zu wissen, weil man es ihnen gesagt hat, wieder und wieder und weil sie nicht gelernt haben etwas anderes zu denken, als das was man ihnen sagt. Sie glauben zu wissen was die Volksgesundheit ist, weil sie das glauben, was die Gesetze dieser Zeit sagen. Vielleicht gibt es auch Teile in ihnen, die das nicht glauben, aber trotzdem tun, als würden sie es glauben. Weil sie Angst haben, oder ihre Familien vorsorgen wollen oder überleben möchten, egal wie.
Die Schwestern mit den roten Kreuzen bringen kein Wasser mit. Sie stürzen sich wie eine dunkle Flut auf den Kindonkel. Weißhaubige Hornissen mit Stimmen wie Bombenhagel: “Den Idiot nehmen wir mit!”. Sie reißen den Kinder Onkel weg von denen, zu denen er gehört, weg von dem Mädchen mit dem Kopf auf dem Blumen bestickten Kissen, weg von seinem Vater der nicht laufen kann, weder weg noch hinterher. Der Kindonkel weint, ein hilfloses Schluchzen, er wehrt sich und wird geschlagen. Der Vater, der im Gegensatz zu den Kinderseelen versteht, weint auch. Er weiss, dass er seinen kleinen Jungen im Körper eines großen Jungen nie wieder sehen wird.
Er weiß vielleicht noch nicht, dass sein doppelter Junge Teil von medizinischen Versuchen sein wird. Er hat den Körper eines kräftigen jungen Mannes, das lädt ein. Und so kann er der Gesundheit, der Volksgesundheit doch noch etwas Gutes tun. Der Vater weiß auch noch nicht, das andere Schwestern mit weißen Hauben kurz vor Kriegsende Kinderseelen im erwachsenen Körper Spritzen geben, die sie Erlösung nennen. Erlösung von lebensunwerten Leben, ich denke einige haben das tatsächlich geglaubt.
Sie haben geglaubt etwas Gutes zu tun, so wie der Kindonkel es nicht glauben kann. So wie der bestürzt weinende Vater, denn irgendwo hinkann, es nicht glauben kann und das Rosenkissenmädchen es auch nicht kann. Das Rosenkissenmädchen versteht nur das Weinen und dass jemand der dazu gehört plötzlich fort ist, getrennt. Das Rosenkissenmädchen versteht, dass Menschen, die scheinbar kommen um zu helfen, dies nicht immer tun, dies auf die allererschütterndste Weise nicht tun, schlimmer als die Stahlgewitter vom Himmel. Das Mädchen wird später sagen, dass das seine erste Erinnerung an diese Welt ist.
Das Mädchen ist meine Mutter.
Und mit geheimen Bewegungen in ihren Zellen hat sie die Nacht im Zugabteil an meine Zellen und die Bewegungen um sie herum weitergegeben. Ich habe auf schreckliche Weisen in meinem eigenen Leben Helfer erlebt, die zu Aggressoren werden. Manchmal vielleicht in gutem Glauben, manchmal aus Überforderung, manchmal in einem denken, dass der Zweck die Mittel heiligt, manchmal aus Gleichgültigkeit, manchmal, weil irgendetwas in ihnen durchgebrochen ist, das jenseits von Menschlichkeit liegt. Mein Lebensthema, eingesickert in der Rosenkissennacht in die Zellen meiner Mutter und meine.
Es hat vieles gemacht. Und es hat meine Augen geschärft, meine Sinnesorgane für Hilfe, die nicht sie selber ist, sondern inhuman und lebensfeindlich.
Ich fühle in dieser von der unbekannten Macht des Virus infiltrierten Zeit eine große Distanz zu allen Verschwörungstheorien. Stattdessen denke ich, dass das wahrhaft schwer Auszuhaltende an der momentanen Situation ist, eine Situation ohne einen Schuldigen zu haben. Eine, in der alle Gewissheiten fehlen. Ich bemühe mich, die Leerstelle dieses Unwissens auszuhalten und nicht durch Konstrukte zu füllen.
Aber ich nehme auch wahr, wo Maßnahmen inhuman werden.
Es hat etwas Verstörendes, Menschen die sich alleine auf Felsen sonnen, mit Militärhubschraubern aufzuspüren. Es hat etwas Verstörendes, Familien mit kleinsten Kindern wochenlang zu 5 auf 2 Zimmern einzupferschen. Es hat etwas Verstörendes Maßnahmen beizubehalten, die 30 % mehr Kindesmißhandlungen als einen lebenslang schädigenden Virus in die Seelen dieser Kinder pflanzen. Es hat etwas Verstörendes, wenn die Guardia Civil auf einen geistig Behinderten einknüppelt, der die Ausgangssperre Regelungen nicht verstehen kann, weil er eine Kinderseele in einem Männerkörper ist. Und es hat etwas Verstörendes, dass das Rosenkissenmädchen heute im Namen der Volksgesundheit allein sterben müßte, allein mit weißgekleideten Menschen, die ihm kein Kissen mit Rosen reichen werden.
Die Überfokussierung auf die Frage ” Ansteckung oder nicht? ” kann uns virusblind machen. Blind für Verhältnismäßigkeiten. Blind und stumm in Bezug auf Fragen, die nicht nur gestellt werden können, sondern auch müssen. Es geht dabei nicht um Vereinfachungen wie” Zustimmung zu gar keinen Maßnahmen oder Zustimmung zu allen Maßnahmen “. Es geht auch nicht um eine Star Wars Gegenüberstellung von “Weißwestige Gesundheitsfürsorge versus die dunkle Macht des Geldes “. Sondern es geht um Gespräche über die zutiefst ethische Frage „Was fördert Leben in dieser Situation am meisten?“ Nichts nur: “Was verhindert Ansteckung?“ Sondern: „Was hilft aus den verschiedenen Gesichtspunkten mit all den Unbekannten die wir haben, dem physischen und geistigen Leben am meisten?“ Wir müssen diese Fragen in aller Offenheit miteinander besprechen können, in aller Offenheit um nicht von dem Virus der Spaltung, der sich auch schon bei der Migrationsfrage so fürchterlich breit gemacht hat, weiter infiziert zu werden.
Wir müssen das tun, auch wenn wir keine Einflüsse auf die momentanen Gesetze haben.
Wir müssen das tun um eine innere Diktatur des Wohlmeinens nicht zuzulassen.
Wir müssen das tun, weil wir andere sind als die Krankenschwestern im Zug, die vielleicht auch überzeugt waren zu wissen, was das Beste für die Volksgesundheit ist.
Wir müssen das im Eingeständnis des am schwersten Auszuhaltenden tun: dem Wissen, dass wir im Moment alle keine richtige Lösung haben. Und eben trotzdem Erkennende und Wahrnehmende der Grenzen von Humanität in den Maßnahmen sind.
Wir müssen das tun für den Kindonkel und das Rosenkissenmädchen und für das was Humanität auch bedeutet:
Miteinander in unserer Andersartigkeit reden.
(c) Judith de Gavarelli 2020