Die Königin

Die Königin –

der Weisspalast der Dissoziation

Mein Vater, der die Augen meines Vaters trägt und seine Hände, seinen Mund, mein Vater ist mein geheimer Junge.

Meine Mutter nennt ihn, wie sie auch seine Familie nennt. Meine Mutter nennt ihn: “Schuld” mit allen Sätzen. Mir, die ich seine Stimme, seine Augen, seine Stirn habe, gibt sie mit vielen Worten denselben Namen, den ich nicht tragen will, auch wenn er zuzeiten nach Macht riecht.

Darum nenne ich Ihn, meinen Vaterjungen, mit ungesprochen Worten “Unschuld” und er dankt es mir, indem er in das Haus meiner Mutter mit seinen Vaterhänden ein zweites, ein nebelweißes baut. In dem wohnen zusammen nur: ER und ich. Da sitze ich abends im Fenster und singe.

Nichts wusste dort meine Mutter von allem.

Rührt sie an die Wände, wenn sie schreit “Schuld, Schuld”, werfe ich mich ihr entgegen mit
Totenblumentrotz, mit Löwenmuttergebrüll, wenn sie schreit, den Mund verzieht und ich weiß, mein kleiner Jungenvater mit den Christkindaugen kann sich nicht wehren wie ich, die 4-jährige Löwenkönigin, die klug ist und die 12 Monde des Jupiters kennt – so sagen es alle und ich habe die Macht.

Ich kann mit 2 Jahren in der Apotheke nach Tussamag-Saft und Amoxicylin fragen, ich schreie vor ihr und für ihn, so habe ich ein Haus: erfrieren werde ich nicht.

Unser Weißhaus hat keine Tür zur Straße hin, auch keine Fenster, im Garten baut mein Vater mir ein Kletterland, dort spiele ich mit anderen Kindern die Königin, die ich bin, die Waise auf der Flucht vor der He Ho Hexe, die schreit, die Kinderstühle auf meinem Rücken zerbricht, die sagt, sie liebt mich und ich weiß, sie sucht ein anderes Kind: mein Vater liebt mich und er ist gut.

Er schaut mit mir wilde Schweine, ich nur verstehe, warum er auf Wanderungen hinter und vor und fern von den anderen laufen muss. Er baut mit mir Staudämme im Bach und ich nutze alles, was ich habe, für ihn zum Schutz: ich habe die Macht und ich habe das Wort.

Ich bin die Prinzessin in meinem Nebelhaus.

Ich bin die mit der schönsten Puppenstube.

Ich wohne in einem Weißpalast.

Ich bin die, die an Muttermilch beinahe erstickt.

In unserem weißen Haus, das meine Mutter nicht kennt, ist alles wie geträumt. Abends gehe ich nicht schlafen, sondern auf Nachtmeerfahrt. Ich weiß, ich darf mich auf keinen Fall bewegen dann wird der Atem leise, wenig und ich treibe, werde gerettet, auf das dunkle Meer, wo mich endlich, endlich keiner berührt.

Ich sehe Werbefilme und spreche von mir heimlich in der dritten Person: ich bin “sie”, die ich erfinde. Der Rest ist Nebeltraum. Meine Mutter nennt es, kreischt es “Lügen”. Ich nenne es: meine weiße Welt.

Die Kinder finden mich komisch, ich lese ohne Unterbrechung mit 10 “Der Spieler” von Dostojewski und Hanni und Nanni und Thomas Mann. Die Kinder sagen: Du sprichst Worte, die es gar nicht gibt. Ich lerne Alleinsein und fehl am Ort sein.
Ich lerne: Wissen ist Schuld.

Wenn mich jemand verletzt, erklärt mir meine Mutter mein Vergehen, ich bin wie die Tante, die sich an Männer verkauft, hätte Kain ein Zwillingsschwester, eine Nichte, trüge sie ein Zeichen wie ich, ich bin die Ursache von dem, was der andere tut.

Später misshandelt mich die, bei der ich Hilfe suche, ich bin böse sagt sie mit den Fingern, die mir die Oberschenkel blaukneifen und die Kleider fortnehmen, ich bin schuldig, sagt sie und ich weiß, dass es stimmt.
Ich bin ein feueräugiges Tobekind. Ich habe die Macht und wenn einer mir weh tut, trage ich die Schuld:
Die schwarzherzige Königin lockt das Dunkel in anderen hervor und könnte alles verhindern mit ihrem Wort.

“Du willst nur nicht”, sagt meine Mutter. Ich sage: “Ich kann nicht wollen” und zeichne ein Bett, was einer aufdeckt für die Königin und sich über sie beugt mit einem großen, harten Schattenschwanz.
Ich lese “Die Kunst der Verführung”.
Die Königin ist 7 Jahre alt und hat die Macht, Ja zu sagen oder Ja oder Ja.

Mein Vater und ich trinken zusammen in dem weißen Schattenhaus Lethe, den Vergessensfluss: So verträumt sich der Tag und alles ist gut.

Für jede Bewegung brauche ich die doppelte Zeit.
Einer nennt mich das Kind, das immer bei den Engeln ist.

Ich nenne es Angst.

(c) Judith de Gavarelli 2007