Erzählungen aus dem Nicht-Ort
Erzählungen aus dem Nicht-Ort –
Versuch einer Abtastung des traumatischen Raums
Diese Erzählung beginnt damit, die Sprache zu öffnen, nicht die Sprache im Allgemeinen, sage ich, sondern diese Sprache, die Sprache des leeren Orts.
Ich habe kein Interesse daran, über den Nicht-Ort zu schreiben, das klingt vielleicht widersprüchlich, aber ich meine, man schreibt nicht über ihn, man schreibt aus ihm heraus. Der Nicht-Ort ist eine Metapher, eine schwer zu greifende Metapher, will ich sagen, aber das klingt holprig, ich kreise ihn mit der Sprache ein und suche nach Worten, die linke Hand mit sanftem Druck in die blaue Luft gerichtet, es ist ein Maitag, das sage ich gleich, unter mir ist flaumiges Gras und der Fuß einer neben mir liegenden Frau schilfert an seinen Zehen. Das ist ein Ort.
Wenn ich jetzt vom Nicht-Ort spreche oder vielmehr versuche, den Nicht-Ort zu schreiben, spielt es keine Rolle, ob es Mai oder Winter ist, es ist der Ort eines abwesenden Frühlings, auf den kein Sommer, kein Herbst und kein Winter folgt. Es ist ein Ort ohne Welt. Aus ihm zu schreiben stellt uns vor eine Schwierigkeit. Ich sage „uns“, weil es ein „wir“, ein stummes „wir“ gibt von denen, die ihn kennen, denjenigen, denen in ihm wie mir die Stimme versagt. Es ist ein stummer, ein sprachloser Ort. Früher dachte ich, die Bezeichnung „sprachlos“ wäre nur ein Bild, eine Metapher, eine poetische Analogie. Kürzlich lernte ich aber, dass dieser Raum als Gespinst von Synapsen und in ihm fließenden Neurotransmittern abgeschnitten ist von den Zonen der Sprache in unserem Gehirn, auch den Orten, an denen wir sagen können „Ich“. Er ist tatsächlich, wenn man so will, fleischlich, auf der Schnittstelle zwischen Fleisch und Geist, ein Nicht-Ort, ein Nicht-Ich-Ort, ein fremder Raum in unserer Heimat.
Ich spreche vom Ort des Traumas, das will ich so nicht sagen, weil es so modern klingt, als könnte mit diesem Wort ein Halbkreis von Psychologen wissend mit dem Kopf nicken. Ich möchte lieber sagen, es ist der weiße, stumme Ort, der angesichts sprachlosen Entsetzens auftaucht, Zuflucht, Elysium und Hölle zur gleichen Zeit. Es ist der Raum, der sich öffnet durch die Art von Verwundungen, die Fäden reißen lassen, die die feinen, sprechenden Kanäle in unserem Inneren zusammenziehen, blockieren, zum Schweigen bringen, so dass wir einen Augenblick Tiere sind, die blitzschnell reagieren, Feen und Elfen ohne Körper, salzige Säulen ohne Schmerz.
Es ist der Ort, der uns gerettet hat, es ist der Ort, der uns manchmal zu töten scheint, es ist der Ort, der uns fremd macht und an dem wir danach verurteilt sind zu wohnen: Wir, die Mädchen und Jungen aus dem mundlosen Danach. Wir, die Kinder, die in ähnlicher Weise wundgeschrieen und wundberührt worden sind.
Es ist ein leerer Ort, dunkelweiß und von der Art von vibrierender Leere, in der wir oder die, die in uns Kinder bleiben, an keinem Wiederhall, an keiner wärmenden Anwesenheit mehr die Grenzen unseres Körpers spüren, eine Leere, in der sich unser Gesicht verliert und wir Puppen sind, Körperöffnungen, Münder, kleine Geschlechtsteile ohne Fäden, ohne Zugehörigkeit zu einer Person. Oder Masken, von anderen erdachte, fremdgesehene Kinder, die sich vor unser Gesicht schieben, dass darunter unkenntlich bleibt, ungeformt dadurch, dass es sich selbst im Blick des anderen nicht erkennt. Es sind wir, die wir zu dem in uns, was in diesen Räumen lebt, nicht „Ich“ sagen können, vielleicht „sie“ oder „die Kinder“, die anderen, die Fremden in uns. Wir sehen das, was wir nicht „Ich“ nennen vielleicht als Kinder mit blauweißen Häuten, durchscheinend und mit schwimmender, sich auflösender Kontur. Es sind Kinder, deren Gesicht wir ungeformt, noch nicht geworden sehen, weil sie sich in keinem spiegelnden Blick erkennen konnten. Es sind Kinder, deren Räume keine Wände haben und deren Zeit kein davor oder danach kennt, sondern nur ein unendliches „immer wieder“ ohne Zeit und ohne Ort.
Es ist Mai und neben mir ist flaumiges Gras, sage ich, und eine Frau mit schilfernden Zehen. Wir, die wir Kinder ohne Orte in uns tragen, müssen vielleicht die Grasnabe dorthin pflanzen, müssen die Nichtorte umsorgen mit weichem Grün, sie möblieren mit Betten aus dunklem Holz und frischbezogenen, waschmittelduftenden Federdecken. Wir müssen vielleicht in den raumlosen Raum Wände pflanzen und in das Nichts eine Sicht auf das Meer. Und dort, wo es vielleicht keine Mütter oder Väter gab, sondern Hände, die uns wundgriffen und kreischende Stimmen, die Risse in unsere ungewordenen Gesichter schlugen, müssen wir Erde pflanzen. Wartende Erde, die atmet, die bleibt. Lehmfarbene Erde, die Sonne und Erzählungen geatmet hat und in den Nichtorten warm zu uns sendet, wartend, ruhig bis die aufgelösten Häute unserer Kinder Konturen bekommen, Linien, Grenzlinien, Orte und Form.
Es ist Mai, sage ich, und neben mir bewegt eine Frau ihre schilfernden Zehen, in einer Zeit, an einem Ort, unter mir ist flaumiges Gras, sage ich und Erde, wartende Erde, warm.
(c) Judith de Gavarelli 2007