Kragenspeck
Kragenspeck
Transgenerationale Weitergabe von Verachtung
Mit einundzwanzig wird sie das Wort Kragenspeck zum ersten Mal gehört haben. Sie hört es danach mit einem dumpfen Dröhnen in den Ohren, einem metallischen Geschmack im Mund, einer Schwellung der Gesichtshaut. Es ist Mai und die Bäume blühen vielleicht. Ich denke, dass da ein Obstgarten hinter dem Haus war und sehr deutscher Wald in der Nähe, ich denke, dass da eine übergelb gestrichene Küche war. Sie ist einundzwanzig und hat Leichen aufgeschnitten und Gehirne, nicht nur in der Metapher. Der Formalingeruch der menschenfernen Substanzen, die einmal Körper und Organe des Denkens oder Fühlens waren, wird ihr im Gedächtnis bleiben, auch das Kreischen der kleinen Fräse beim Aufsägen des Schambeins und die gallertartige Konsistenz von Fettgewebe. Sonst wird sie vergessen.
Ich meine zu sehen, dass sie das getan hat und dass es nicht das Schlimmste war. Dass sie Prüfungen gemacht hat über unzählige Substanzen und Durchmesser, Ansatzpunkte, Löcher und Fasern und dass das nicht das Schlimmste war. Ich meine zu sehen, dass sie eine von roten Rissen, Risswunden, Kratzwunden bedeckte Haut hat und dass das nicht das Schlimmste war.
Sie wohnt in einem Tal, das von einer Autobahn geteilt wird, einer Stadtautobahn. Sie wird später sagen, es war wie ein Wohnen in einer Erdspalte mit einer Linie aus Lärm. Sie wird später diese Worte haben, in der Zeit hat sie keine. Sie wird sagen, dass sie gut lernen konnte, Zellen, Fasern, Grundsubstanz, aber dass sie in der Zeit keinen zusammenhängenden Satz gesprochen hat. Sie wird meinen: in ihrem Studium und es wird eine Übertreibung sein. Sie wird es empfinden, als wäre es keine.
Sie hat das Wort Kragenspeck noch nie vorher gehört, weiß aber sofort, was gemeint ist.
Sie kommt aus einer Welt, in der solche Wörter benutzt werden.
Meine Mutter hatte eine solche Sprache, vielleicht auch noch eine andere, das weiß ich nicht. Vor kurzem sah ich, wie papierdünn ihre sommersprossige Haut geworden ist, wie gewichtslos, widerstandslos der Arm, obschon sie mit ihrem Fett kämpft. Und wie sie sich treibt, treibt, treibt.
Das Mädchen mit der wunden Haut am Hals, durch den ein Riss wie ein aufgesprungenes Würgemal läuft, ist keine junge Frau. Sie ist einundzwanzig und hat eine hohe Kinderstirn. Sie ist glücklich, wenn sie ihr Gesicht im Spiegel wiedererkennt. Manchmal ist ihr Gesicht wie das einer anderen. Sie wird später sagen, sie hat in dieser Zeit keinen zusammenhängenden Satz gesprochen, schon gar nicht geschrieben. Es wird eine Übertreibung sein. Es wird wahr sein und unwahr, hauptsächlich aber wahr.
In dem Zimmer zur Straße hin liegt hellgrauer Linoleumboden, zum Garten hin anthrazitfarbener Teppich. In der Wohngemeinschaft, die sich oberhalb der Bodenbeläge bewegt, wohnt eine Zeitlang jemand, der „Kraft“ heißt, weil seine Eltern Hippies waren und er ein schwächliches Kind. Auch wohnt dort einer, der dreiundzwanzig Dosen Bonduelle mexikanische Gemüseplatte im Angebot kauft und Messer sammelt. Sie wird sich an keinen der beiden wirklich erinnern.
Kragenspeck ist ein Wort, dass wie ein Peitschenschlag klingt, wenn ich an sie mit den Rissen im Hals denke, im Hals und in den Ellebeugen. Sie hört das von ihrer Mutter, dieses Wort für den Schmutzrand an einer Bluse, vielleicht auch einem Hemd, dort ist es eine Bluse.
Ich frage mich, ob es Begehren gibt in den Räumen, in denen Wörter wie „Kragenspeck“ und „Bügelbrett“ gesprochen werden. „Du hast ja gar kein Bügelbrett.“ hört sie anklagend und es erscheint ihr in der Erinnerung gekreischt, wie Nägel, die über Glas schrammen. Es gibt aber keine Nägel über Glas in dieser Zeit, nur Nägel über Haut, die dann leise aufplatzt, das ist eine Hautkrankheit, keine Krankheit der schrammenden Finger oder Nägel, sagt sie vielleicht. Sowas hätte sie sagen können, gerade noch.
Ich frage mich, ob sich das Begehren in bestimmten Worträumen bewegt. Und wie sich diese Räume verhalten, hinbewegen zu Räumen, in denen von Kragenspeck und abwesenden Bügelbrettern die Rede ist.
Oder ob Begehren gerade dort zuhause ist, in dieser Schmutzspur, dieser Inschrift aus Zeit in dem Kragen einer Bluse, vielleicht auch eines Hemdes, das nicht gestärkt ist, wahrscheinlich nicht. Es erscheint mir nicht fremd, dass Begehren in diesem Schmutzrand zirkuliert. Vielleicht in einem Schmutzrand von etwas Weißem, da sieht man diese talgige Spur aus Schweiß, Hautfett, schilfernden Schuppen und Make-up-Resten am besten.
Sie hat keine Worte wie „Schmutzspur“ und „Inschrift aus Zeit“, sie spricht nicht so und es gibt niemanden, der so hinüber spricht, ihr entgegen spricht. Die Worte, die sie hat, damit ihr Leben sich vielleicht später einmal in einer anderen Spur bewegen kann, hat sie aus Büchern, wenigsten die.
Sie bittet in dem Zimmer mit dem grauen Linoleumboden den jungen Mann sich auszuziehen. Es ist das Zimmer, das nach Süden hin gelegen ist, zur Straße hin und eine weiße Birke vor dem Fenster hat, gegenüber gibt es eine Burschenschaft, die manchmal Trinklieder singt und zu der Hunde und Frauen keinen Zutritt haben. Sie bittet ihn, sich auszuziehen, während sie angezogen bleibt, stehend, vor ihr, aufgerichtet, er und sein Geschlecht. Der junge Mann ist verlegen, unbeholfen, will aber aufgerichtet und ihr untergeordnet bleiben. Er ist ihr untergeordnet und streift befangen T-Shirt und Jeans ab, auch die Unterhose, vielleicht einen dunkelblauen Hüftslip. Er hat den durchtrainierten Körper eines Turners und in der Abendbeleuchtung der Schreibtischlampe sieht man seine unreine Haut nicht. Er streift die Jeans ab und zögert, sie sitzt angezogen auf dem Bett, schaut ihn an, in seinem Rücken die Tür, er zwischen ihr und der Tür. Er zögert und streift dann den Slip ab, bleibt aufgerichtet, ist aufgerichtet, hochgestellt und unterstellt, sie sagt: „Beweg Dich.“ Und er geht verlegen vor ihr auf und ab und sie sieht ihn mit dem Rücken zur Tür, der geschlossenen, verschlossenen. Später, als er das erste Mal in sie einzudringen versucht, das erste Mal für sie und das zweite für ihn, ist sie es, die verschlossen ist, verschlossen bleibt. Sie wird sich später nicht mehr erinnern, ob der Versuch weh getan hat, nur dass es am nächsten Morgen so war, als seien ihre Beine nicht mehr vorhanden und könnten nicht mehr geschlossen, zusammenbewegt werden. Sie wird sich nicht an die Ärztin erinnern, zu der sie am nächsten Morgen geht, wohl aber an das Fehlen der Beine und die Abwesenheit, als sie vor der Ärztin steht und berichtet, was, wird sie sich nicht mehr erinnern.
Sie würde vielleicht sagen können, dass sie ihre Mutter kreischen hörte und etwas würde dabei wie eine Welle hochspülen, das Brustbein hoch und aus den Augen und Ohren stürzen.
Ich sehe sie dort sitzen, die Mutter und das Mädchen in dem Zimmer mit dem anthrazitfarbenen Teppichboden, das nach Norden geht, hinaus zum Obstgarten. Es ist vielleicht Frühjahr, das sagt die Kleidung. Ihr sagt das nichts. Sie wird später über die darauffolgende Zeit sagen, es sei ein Nicht-Sommer gewesen, dem kein Herbst und kein Winter folgte. In der Zeit wird sie das nicht sagen. Später wohl und dann wird die Mutter nur noch wie ein leises Ausatmen sein, das den Worten folgt.
An diesem Tag sitzt sie ihr gegenüber, wohlmöglich ist die Schwester auch dort. Für sie macht das keinen großen Unterschied, ob die Mutter alleine oder mit der Schwester aus dem Dorf zu der Stadt in der Erdfalte gefahren ist. Die Schwester und die Mutter sind füreinander keine Fremden, für sie schon. Sie sind für sie Fremdfleisch, für einander Einfleisch. Deshalb kann sie denken, dass die Schwester da sitzt oder nicht sitzt. Vielleicht denkt sie am ehesten, dass sie da nur mit der Mutter sitzt und ab und zu durchquert die Schwester das Bild wie in einem Traum.
Sie trägt eine Bluse, aus Baumwolle, denke ich, das juckt am wenigsten auf dem aufgerissenen Hals mit dem Riss wie ein Mund. Später wird sie wollen, dass die Männer ihr die Hand auf diesen Mund legen, ihn zum Schweigen bringen, während sie in ihr sind. An dem Tag ist niemand in ihr, aber die Mutter ihr gegenüber. Sie trägt eine Bluse, kein Hemd. Sie sitzt da in einem alten Ohrensessel, den die Vermieter zurückgelassen haben und die Mutter ihr gegenüber, vielleicht zwischen ihr und der Tür. Sie sagt etwas, das wichtig ist und ich höre nicht mehr, was sie sagt. Es ist vielleicht auch nicht wichtig, was sie sagt, sondern dass sie etwas Wichtiges sagt, etwas, was von ihr und ihrem Leben handelt, dem jetzigen, dortigen und in die Zukunft gedachten. Sie sagt es wie einen Versuch in das Gesicht der Mutter hinein, einen verlegenen, unbeholfenen Versuch.
Ich könnte etwas über die Abwesenheit von Wörtern schreiben, wenn ich dem Mädchen dort zuhöre, wenn ich sie anhöre. Aber was zählt, ist der Versuch.
Sie sagt, dass sie unglücklich ist und die Haut gerissen, sie sagt, dass sie nachts das Jucken nicht schlafen lässt, dass es sich anfühlt wie eine ungewollte Berührung sagt sie nicht. Sie sagt, dass sie Leichen aufgeschnitten und Fragen beantwortet hat, dass sie nachts im Altenheim gearbeitet hat, morgens mit Kotresten unter den Fingernägeln, weil es manchmal keine Handschuhe gab und dass das nicht das Schlimmste war. Sie macht einen Versuch in das Unbenannte hinein zu sprechen, mit Wörtern ein besseres, in der Zukunft liegendes Unbenanntes aufzubauen, eine Sehnsucht, eine Hoffnung. Sie legt die Worte dieses zaghaften Versuches der Mutter wie Federn hin. „Du hast Kragenspeck.“, sagt die Mutter.
Das Mädchen versucht, das Wort wegzuwischen mit dem Handrücken, dem linken, auf dem rechten ist papierdünne, offene Haut mit einem Mundriss, der manchmal nässt, heute nicht. Das Mädchen drückt die Hand gegen die stumpfe, dunkelweiße Wortwelle und ihre Stimme wird drängender, sie versucht zu erklären, sich zu erklären, sich aufzurichten, sich darzulegen. Sie versucht zu sagen, was es sein könnte, wie sie sich es wünscht und es ist wie ein Weinen in eine Zukunft hinein, eine bessere. Sie öffnet drängend und erklärend den Wortkanal, den sie der Mutter anreicht, hinüberreicht, zu Füßen legt. „Du hast Kragenspeck.“, sagt die Mutter.
Es wird sich vielleicht noch zehnmal wiederholen. Das Mädchen sagt unbeholfen, verteidigend, mit ungeschickten Worten wütend werdend, dass es darum nicht ginge und die Mutter wiederholt „Du hast Kragenspeck.“ mit einer Kadenz ohne Lust. Oder vielleicht doch mit Lust, einer anderen. Sie rollt heran, auf sie zu, überschlägt sich, es bricht sich die Welle. Du wirst nie einen Job bekommen, lern’ erstmal Mensch zu werden, Du willst nur nicht, es ist wichtig, wie man aussieht, Du hast Kragenspeck, die Mutter lacht mit glänzenden Lippen, erregt, weil es absurd ist und sie weiß es und wiederholt keuchend den Wellenbruch des vom Kragenspeck gezeichneten, im Kragenspeck aussichtslos werdenden Lebens bis das Mädchen bricht. Bis sie überschäumt und bricht, bricht und schreit und schuldig wird.
Ich werde möglicher weise keine Erinnerung an meine Mutter haben. Oder vielmehr keine Erinnerung an „Ich mit meiner Mutter“. Ich erinnere mich an keinen Augenblick mit ihr, in dem ich enthalten war.
Die Mutter hat einen Mann geheiratet, der nicht genügt, der ein Zeichen ist, dass sie nicht genügt. Sie hat das mit einundzwanzig in ihr Tagebuch geschrieben, dass das Mädchen später findet. Sie hat das vor ihrer Heirat geschrieben und ihn danach geheiratet, ihn, der nicht zulänglich ist. Sie wird sagen, dass er schuld ist an dieser Unzulänglichkeit. „Du willst nur nicht.“ wird sie dem Mann sagen, dem Mann, der später nicht mehr will. Der Mann, der B-Mann wird später nicht mehr in sie eindringen wollen, nicht mehr in ihr enthalten sein wollen, sagt sie dem Mädchen. Sie sagt, dass er schuldig ist, der Mann, der nicht mehr in ihr sein will, in diesem Bett mit der selbst gehäkelten Tagesdecke in Cremeweiß, diesem Doppelbett, dem gegenüber immer ein Fenster offen ist, zur Straße hin.
Das Mädchen erzählt der Ärztin nichts von verschwundenen Beinen, die nicht mehr geschlossen werden können. Sie erzählt ihr, dass sie nicht offen war, nicht zur Straße hin, nicht zu ihm hin und dass er nicht hineinging, in sie. Sie bittet die Ärztin nachzusehen, ob alles in Ordnung ist, ob etwas in Unordnung ist. Es ist nichts, sagt die Ärztin.
Die Mutter wird sie kurze Zeit vorher „Nutte“ genannt haben, als sie das erste Mal bei dem jungen Mann schläft, der einen Turneroberkörper und unreine Haut hat, als sie bei ihm schläft, im Haus seiner Eltern, die beide trinken. Nur die Mutter wohnt noch dort, seine. Sie wird durch das Fenster eingestiegen sein, dass er für sie geöffnet hat, zum Garten hin.
Er wird ihr an diesem Abend gesagt haben, dass er sie liebe und dass sie dies wüsste. Er wird das gesagt haben in die Aussichtslosigkeit hinein, ein B-Mann zu sein, mit der Unbeholfenheit, der unreinen Haut, den trinkenden Eltern. Die Mutter von ihm schreit das Mädchen an, sie sei eine Schlampe und wirft betrunken mit Stühlen, die Mutter ist groß und blond, er klein.
Er wird dem Mädchen gesagt haben, dass er sie liebe und sie wird gerührt sein, dass er das aus seinem Mund in die Aussichtslosigkeit hinein strömen lässt. Sie wird ihn deshalb auf diesen Mund küssen an dem Abend, wo sie bei ihm, neben ihm schläft.
Sie wird sich später über diesen Mund hocken und sich lecken lassen, seine Zunge in sie hineinschreiben, hineinsprechen lassen. Sie wird sich auf diesen Worten vor- und zurückbewegen, sie wird sich gehen und kommen lassen, in ihn hineinkommen lassen, weil sie denkt, dass dieser Mann B-Ware ist und sie sich freier bei ihm fühlen kann als bei jedem anderen. Sie wird ihren Schmutzrand, ihren Schmutzmund auf seinem Mund öffnen, in dem Haus, dieser Schmutzspur, wo die Mutter sie „Schlampe“ nennt.
Sie wird sich mit den Händen auf seinen Knien abstützen und ihn manchmal ergreifen, eingreifen, wenn er aufgerichtet ist, aufgerichtet und unterrichtet, unterstellt. Oft wird sie das vergessen.
Am Tag wird die Mutter zusehen, ihre, nicht seine. Die Mutter wird ihn ansehen, es ihnen ansehen, ihm, ihrem Mund und der Schmutzspur an seinem Hemd. Das wird eine Metapher sein, die sie später sprechen kann, in dieser Zeit kann sie das nicht. Sie wünscht sich, dass der junge Mann ihr Briefe schreibt, dass er einer ist, der schreibt, der spricht, der in sie hinein spricht, der ihr entgegen spricht. Der junge Mann ist traurig, dass er kein Poet ist, nicht der Poet, als den sie ihn schreiben will. „Du willst nur nicht.“ sagt sie ungesprochen zu ihm, ihrem B-Mann, dem Zeichen ihrer Unzulänglichkeit. Ihrem Schmutzrand, der schmutzigen Bluse, wegen der sie nie einen Job bekommen wird, nie einen zulänglichen Mann, einen, der zurückspricht, einen, den sie liebt.
Sie hockt sich in der Wohnung seines Vaters über sein Gesicht, den dunkelblauen, kurzen Leinenrock hoch geschoben. Sie gibt ihm ihren Schmutzrand, ihren Riss, ihren metallischen Geschmack in den Mund, presst ihre Schenkel bis zu einem dumpfen Dröhnen an seine Ohren, bis zur Schwellung der Gesichtshaut um seinen Kopf. Sie lässt seine Zunge über sich drübersprechen, in sich hineinsprechen. Er liebt sie in die Aussichtslosigkeit hinein, nicht zu genügen, er wartet auf sie, nachdem sie von der Ärztin kommt, wartet, bis sie kommt, wiederkommt, in seinen Mund hineinkommt. Sie wird nass werden vor Rührung, dass er auf sie wartet, auf ihre Ankunft wartet. Sie wird ihn hineinlassen in ihre Aussichtslosigkeit, aufgerichtet und ihr unterstellt, ihn in sich hineinlassen, hinaus- und hinein bewegen lassen in die Aussichtslosigkeit ihres nassen, ihm entgegenkommenden, wie ein Fenster zum Garten hin geöffneten Schmutzrandes, bis er überschäumt, bis er schreit, bis er bricht.
Später wird er sagen, sie wolle, dass alles wie in den Büchern läuft, die sie gerade liest, alles, er auch. Sie wird dasselbe sagen, mit anderen Worten. Er wird das wie einen Vorwurf sagen, sie wie eine Wahrheit, die sie gerettet hat.
Ich sehe das Mädchen mit dem roten Riss am Hals, den die Hand des jungen Mannes vorsichtig bedeckt. Es ist ein Riss wie ein Mund. Ich frage mich, wie sich in welchen Worträumen das Begehren bewegt. Ich sehe das Mädchen in den Mund des jungen Mannes hineinatmen in der Nacht in dem Zimmer mit dem Fenster zum Obstgarten hin. Sie wird sich an das Kreischen der Mutter erinnern und an seinen warmen Geruch. Sie wird ihm sagen, dass sie ihn liebt. Sie wird ihre Hand in der Dunkelheit vorsichtig an seine Wange mit der geschwollenen Gesichtshaut legen, seine B-Haut, in die sie Tag für Tag Risse schreit, die Risse seiner Unzulänglichkeit, ihrer in ihn hineingeschriebenen, hineingeschrieenen Unzulänglichkeit, die sie mit einer Kadenz ohne Lust wiederholt, wiederholt, ständig wiederholt zur Straße hin, bis er bricht, bis sie bricht, bis sie überschäumt und schreit und schuldig wird.
Es ist Mai und die Bäume blühen vielleicht.
Sie wird das Wort „Kragenspeck“ mit einundzwanzig zum ersten Mal gehört haben.
(c) Judith de Gavarelli, November 2007