Makel, lange genug
Makel, lange genug
Von der Zärtlichkeit gegenüber unseren Versehrtheiten
Man muss keine Schönheit suchen, eher einen Makel, einen Riss, eine brüchige Naht. Sie muss groß genug sein, um etwas zu zerstören.
Sie muss groß genug sein um etwas zu zerstören, vielleicht, vielleicht um etwas zu zerstören. Nicht so, dass es in Frage steht, ob sie es könnte, sondern ob sie es tut.
Etwas, vielleicht in unseren Augen.
Schreiben, nein, die auf unser Schauen unserer Augen folgende Mundöffnung und das sich daraus hervorwindende Schreiben ist immer ein Durchtritt, ein Eintritt, ein Fall oder Sinken am Rande dieses Vielleicht, am Rande dieser Naht. Am Rand dieser Naht, dieser Bruchstelle und unserer Bereitschaft, etwas in ihr zu erkennen. „Zerstören, sagt sie“, das ist ein Zitat, ein Titel, von etwas, einem Buch, keinem von mir. Das ist mir auch nicht wichtig, ebenso wenig, wie dass es nach etwas Wildem und Großen klingt. So klingt es, zu Recht, aber das ist eigentlich falsch. Ich habe es mehr mit dem Kleinen, oder vielmehr ich habe es noch nicht einmal, ich suche es dort, wovon man denkt, es sei es nicht wert, wahrscheinlich nicht wert, daran sein Ohr zu legen, die Finger entlang gleiten zu lassen:
Fadenscheinig denke ich, je billiger, desto besser.
Das klingt fast wie ein umgekehrter Pathos, die große Geste der Beinahe-Bedeutungslosigkeit, der Fast-Nicht-Bedeutung, ohne Prätenzionen, sieh, wie ich das kann. Was ich aber meine, ist etwas Banales, das Versehrte, scheinbar Misslungene, für das man glaubt, keinen Preis zu bezahlen, dort, wo die schlecht verarbeiteten Fäden sich lösen und sich die Unterhaut zeigt, vielleicht gerissen, mit Dellen und Schweiß, ich sage einmal die Stoppeln auf den drei Tage nicht rasierten Beinen, das kommt gerade recht. Die entzündeten Pickel auf dem Rücken des Mannes unter mir erscheinen mir schon zu groß, zu offensichtlich am Rand, über einem Rand – da reicht schon die rührende Hilflosigkeit, mit der sein Haar in die Öffnung der Gesäßfalte wächst, zu dunkles Haar auf zu heller Haut, die aussieht als würde sie manchmal klamm und feucht. Und wie der Körper des Mannes dem ausgesetzt ist, eine leichte Scham, die ihn aufreißt, preisgibt, gegen die er sich mit der Geste seines schutzlosen Liegens anstemmt, nicht viel, nur ein bisschen, das genügt.
Der Körper bräuchte diese Pickel nicht, nicht für diese leichte, entblößende Scham, das in ihn eingeschriebene Bewusstsein, dass etwas nicht vollkommen, scheinbar nicht gelungen ist, immer, etwas, immer etwas misslungen, trotz all unserem Bemühen. Mir ist das gleich, nein, das ist nicht richtig, es ist nicht gleich, es ist auf eine tröstliche Weise schön, das Misslingen, dieses leichte, in den Körper eingeschriebene Misslingen, die unabänderliche, zu uns gehörende Versehrtheit. Und dazu unser Angehen, sich Auflehnen dagegen, unser immerwährendes Bemühen um Makellosigkeit, das Misslingen dieses Versuches und die Scham. Die Scham, die kleine, immer offene Wunde des Fehlers, des Makels, des Versehrten, all der feinen, tröstlichen Brüche in der erschlagenen Größe des Gelingens.
Ich möchte ihm eine Hand auf die Linie zwischen Schulter und Nacken legen, nur so, für einen unbeholfenen Trost, einen, bei dem man vielleicht, sogar wahrscheinlich, peinlich berührt zurückzuckt. Das täte ich gerne, begleitet von der Zärtlichkeit meiner Hände mit ihren eingerissenen Nagelbetten. Ich denke, seine Haut hätte einen leichten Schweißfilm und wäre warm, die Muskeln verkrampft wie Seile, sie würden sich vielleicht kurz entspannen, bevor er erschrickt. Das würde er tun, mit Sicherheit, mit ziemlicher Sicherheit, ich weiß nicht, ob er unwirsch würde oder verstört. Vermutlich beides, die Reihenfolge wüsste ich nicht. Ich hoffe eher verstört, lange genug, dass die Zeit uns zum Durchtritt reicht, zum Eintritt in diese poröse Öffnung am Rande der Scham. Vielleicht würde er auch zusammenzucken, ich traue es diesem Körper zu, dass er erschrickt, dass er sich seiner Preisgegebenheit, der ganzen Sichtbarkeit seines Gelingens und Misslingens bewusst wird, der Bloßgelegtheit und dem Trost durch die Hand. Ich hoffe, die Zeit würde reichen.
Auf seine Frage, was das solle, hätte ich keine Antwort – ich müsste weg sein, bevor er sie stellt, gerne so, als wäre es ein Zufall, als hätte ich mich versehentlich gestützt oder einen anderen berührt, nicht so, dass er sicher sein könnte, sondern als Zuflucht für seine Scham.
Ich würde mich auch so halten, dass ihm noch ein Blick auf die Stoppeln an meinen Beinen gelingt, gelingen kann, wenn er wollte, als Möglichkeit, als Trost. Vielleicht würde es ihn erleichtern.
Vielleicht, dann bräuchte er nicht mal die anderen Fehler, Nähte und Brüche, die, die grober sind wie die silbrigen Narben aus gerissenem Fleisch. Die würde ich mir aufheben, leise, keiner wüsste, ob sie später noch nötig wären oder nicht.
Aber wahrscheinlich bliebe uns nicht genug Zeit, Zeit bevor seine durch die Hand aufgerissene Haut, die porösen, bloßgelegten Stellen sich wieder schließen, er sie abschüttelt und ich verlegen, im Bewusstsein meines misslungenen Bemühens stammeln würde, irgendetwas, entschuldigen Sie, ich dachte Sie wären…dann müsste ich schon fort sein, in der kurzen Zeit, die Hand zurückgezogen, als letztes Geschenk einen Blick auf die Spuren meines verfehlten Bemühens am Bein und hoffen, Hoffen, es würde reichen, später, alleine, für einen Durchtritt durch die Öffnung unserer immer wieder zu findenden Makel, Risse und Nähte.
Hoffen, es würde reichen, für jeden von uns.
(c) Judith de Gavarelli 2009