Male
Male
Numbing und der Schatten der Dumpfheit
Sie hat einen Arm um ihn geschlungen. Um seinen Oberarm, mit abgeknicktem Handgelenk. Etwas klingelt. Er zieht seinen Arm zurück, sie bleibt zurück, ihr Arm ist weiß mit dunklen Malen. Mit Malen, mit Handgelenken, die abknicken, auf ihrem Schoß oder seinem Arm, das ist gleich. Die Linie ihrer Finger weißt nach unten, irgendwohin, wo sie sich verjüngt, verliert, einsinkt: eine fallende Hand. Die Haut ist blond und sie weiß, wie sie ein Gespräch beginnen kann, jemand anders weiß es nicht. Sie verlässt den Zug mit dem Mann, den Malen und den fallenden Händen, jemand anders bleibt zurück. Jemand, er weiß nicht, wie er sprechen soll.
Er weiß nicht, wie er in ihre Abwesenheit hinein sprechen soll, ihre Abwesenheit und die Anwesenheit von etwas Unbenanntem, er wischt das Wort weg, das ist Frauengeschwätz. Sein Mund fühlt sich gefüllt an mit Wortlosigkeit, würden Frauen vielleicht sagen, er sagt nichts. Seine Zunge tatstet die Füllung im Mund ab, ein Klumpen, er ist substanzlos, aber zäh.
Das ist nicht zu begreifen.
Er möchte ihn ausspucken, aber er weiß nicht wie. Er öffnet den Mund und wischt mit der Hand davor, eine abwinkende Geste wie die Jungweizenfelder rechts den Wind abwinken, er winkt ab, aber es verschwindet nichts.
Er weiß nicht, wie er zu ihr sprechen soll, zu der Frau, die abwesend ist, es war nicht die Blonde, erinnert er sich, die hatte einen Mann, einen anderen. Er denkt an eine Frau mit anderen Malen, Sommersprossen hat sie gesagt, aber er wusste, es war etwas anderes. Er runzelt die Stirn, der Zug fährt irgendwohin, rechts ist ein graues Haus. Er denkt, er könnte aussteigen oder es bleiben lassen, das ist gleich. Natürlich ist es nicht gleich, am anderen Ende wartet ein Bus auf ihn, der ihn hin und zurückbringt, früher ist er Mofa gefahren und dann Renault, der war voll Kinder, an die genaue Anzahl kann er sich nicht erinnern.
Das im Mund ist grau, wie das Haus. Er beschließt, es einen Stein zu nennen, das ist nicht richtig, aber es ist ein einfaches Wort, so etwas kann man sagen. Er versucht, ihn auszuspeien, aber er bleibt an seiner Speibewegung haften, bleibt im Mund, direkt bei dem Speichel. Vorsichtig atmet er an ihm vorbei, da bleibt manchmal nicht viel, Luft, will er noch denken, nicht viel Luft, aber er ist zu müde.
Er möchte manchmal die Hand auf ihren Arm legen, aber er wagt es nicht, natürlich wagt er es nicht. Er hasst sie, hat er einmal gesagt, aber auch das ist nicht richtig. Er denkt an ihre Male, Sommersprossen hat sie sie genannt, vielleicht waren es Eingänge, aus denen es sickerte. Er erinnert sich an ihren Geruch.
Die Erde hat einen Stich ins Graue, denkt er, sie ist rechts, links trägt ein Mann mit blauem Anorak sein Fahrrad aus dem Zug, es wird ihn irgendwohin bringen.
Er hat eine Tochter, er weiß genau, dass er eine Tochter hatte, er hat sie gesehen, wie sie herausglitt aus einem anderen Mal, den Kopf zuerst, mit etwas bedeckt, bröcklig und weiß, er glaubt, es war Schleim. Die Tochter ist bei ihm, denkt er, aber er findet sie nicht. Er tastet seinen Körper ab mit einer unbeholfenen Geste, er liebt sie, aber er findet sie nicht. Das Ellebogengelenkt ist hart und seine Bronchien fühlen sich an wie Knochen. Er versucht den Mund zu öffnen und macht eine vage Geste, als säße sie dort.
Die Tochter hat ihm etwas über die Frau erzählt, er weiß, dass es etwas war. Sie hat die Frau „Mama“ genannt, das muss wohl stimmen, aber sie schaute dabei fremd, als wäre es nicht ihre Mutter. Auch er erinnert sich nicht. Er probiert das Wort „Mama“ aus für die Frau, die Tochter hat „Mama“ gesagt und vielleicht „Nicht, Mama“, so klang es zumindest. Sie hat es nicht gesagt, aber es klang so, denkt er. Er hat nicht geantwortet.
Der Atem rund um den grauen Stein geht mühsam, da dringt zuwenig Luft in die Lungen, denkt er. Eigentlich ist er froh. Er lacht, natürlich ist er nicht froh, aber es fühlt sich so an, vielleicht, er bewegt die Schultern.
Er versteht nicht, warum die Tochter ihm etwas erzählt hat. Natürlich möchte er die Achseln zucken, er möchte sie immer zucken: er weiß nichts von der Frau mit den Malen, woher auch.
Er probiert das Wort „Mama“ für sie aus, er korrigiert sich, natürlich müsste er nicht „Mama“ sagen, sondern „meine Frau“. Er hört das Wort, aber es weckt in ihm nichts. „Die Mama“ hat er gesagt, zu der Tochter gesagt mit einer hilflosen Geste der Hand in etwas hinein, er wusste nicht was. Die Tochter hat gewollt, dass er ihr folgt, in dem Raum zwischen ihnen war es sehr weiß und er konnte sie nicht sehen. Ein Vogel hat getschilpt, darüber ein Flugzeug, er hat unbeholfen gelacht.
Er hat nicht „meine Frau“ gedacht, als sie „Mama“ sagte und er „Die Mama“ antwortete. Er hat „meine Tochter“ gedacht, das konnte er, „meine Tochter“ ist für ihn ein Wort, auch wenn er sie nicht findet. Vielleicht hat er nur zuwenig gesucht.
Er hat seiner Tochter ein Haus gebaut, daran erinnert er sich. Auch daran, dass die Frau mit den Malen dachte, sie wohnte ebenso dort. Es war vielleicht schon so, zumindest war es sehr laut in den Randzonen, wo sie eindrang. Morgens, bevor er zur Arbeit ging, wollte er der Tochter immer einschärfen, den Schlüssel nicht zu verlegen, nicht aus der Hand zu legen, nicht weiterzugeben, nicht an sie. Manchmal vergaß er es, aber die Tochter, so denkt er, hat es trotzdem nie getan.
Er öffnet den Mund, da ist so ein Druck, denkt er, im Gaumendach und kurz unter den Wangenknochen, das drückt ihn hinein, er taucht unter es hinab. Keine Luft zu haben ist der Preis, würde die Tochter vielleicht sagen, er staunt manchmal, was sie alles sagen kann, auch wenn sie eigentlich die Stummheit hört mit der er sie…er würgt leicht gegen den grauen Stein an, er spricht das Wort „Liebe“ nicht aus, sie wird es schon wissen.
Die Tochter hat seine Hand auf ihren Rücken gelegt, links neben dem Rückgrat, kurz über der Stelle, wo die Beckenschale endet. Sie hat geweint, nein, er korrigiert sich, sie hat gefasst geschaut, noch nicht einmal traurig, denkt er, er könnte sich irren. Aber vielleicht hat sie auch geweint, nicht so, sondern…er denkt nicht „anders“ aber das Wort flattert lose in seinem Kopf. Er bewegt seine Hand nach oben, unten am Zugfenster sind schmutzige Schlieren, er stößt die Luft aus, als hätte so etwas eine Bedeutung, man kann den Kopf dagegen legen oder es bleiben lassen, das ist gleich, nur zum Schlafen eignet es sich nicht. Er ist müde, aber die Hand hebt sich leicht, als wäre da kein Gewicht drin, als wäre da nichts drin von ihm, er weiß nicht, was er tun soll. Als die Tochter die Hand auf den Rücken gelegt hat, hat er sie nicht weggezogen, er hat einen kleinen Wulst gefühlt, eine Narbe. Mal, hat er gedacht, das ist ein Mal, er hat nicht gewusst, was er dort soll, bei dieser…, zu so etwas sagt man doch nicht „Zeichnung“, auch wenn es vielleicht eine ist, er nennt es ein Mal und glaubt, es sei weiß. Er hat die rechte Hand hilflos in der Luft an ihrer Seite bewegt und die linke dort liegen lassen, direkt an dem Mal, wie einen Gegenstand, bis sie wegging, er glaubt, sie wollte ihn nicht beschämen.
Er atmet mühsam, der Stein ist etwas nach hinten gerutscht, vielleicht hat er geschluckt. Eigentlich möchte er den Mund aufmachen und den Kopf beugen, er möchte speien, aber er weiß nicht, wieso, er lässt es. Es ist besser, es zu lassen, wie die Frau es nicht gelassen hat, die Frau, die er eigentlich „meine“ nennen sollte und stattdessen „die Mama“ nennt. Er hat der Frau auch immer mit Stummheit geantwortet, manchmal hat er sie auch wegwischen wollen, wenn sie speiend im Zentrum seines Blickfelds stand. Sie hat sehr laut gespieen, er hat nicht verstanden, warum. Seine Tochter, denkt er voller Verachtung für die Frau, seine Tochter hätte auch so verstanden, dass er sie…er sagt auch diesmal nicht „liebt“, er denkt es noch nicht einmal, aber er weiß, was das ist, eine Tochter, seine Tochter, die er nicht findet, aber sucht. Er tastet seinen Rücken ab, da, wo er ihren verlassen hat, dort ist kein Mal, denkt er erstaunt.
Er glaubt, an dem Tag habe die Tochter etwas von ihm gewollt, an dem Tag, wo sie „die Mama“ sagte und seine Hand auf den Rücken gelegt hat, wo er den Wulst spürte, er glaubt, ihr Gesicht habe dabei gezuckt.
Vor ihm steigt jemand aus, er könnte es auch tun, vielleicht, oder es bleiben lassen, eigentlich lieber das. Er möchte keinen Schnitt in die graue Landschaft setzen mit seinem Aussteigen, doch, er möchte es vielleicht schon, aber es erscheint seinem Körper nicht als Möglichkeit, in eine Landschaft einzugreifen, egal, was dort geschieht.
Er blickt auf seine Hände und macht vage Bewegungen, vor ihm, so glaubt er, verändert sich nichts in der Luft. In seinen Ohren dröhnt es, nicht besonders laut, der Zug, Getriebe, denkt er und noch etwas anderes, das hat mit dem Stein zu tun. Er wischt über das Ohr, aber eigentlich möchte er es nicht entfernen, da dringt kaum etwas durch, er lehnt sich leicht an diese Nebelwand. Soll sie doch reden, kreischen, speien, er lacht, sie weiß nichts und die Tochter alles.
Die Tochter hat an dem Tag etwas gewollt, er hätte ihr gerne ein Kletterland gebaut und etwas vorgelesen mit der Stimme vom Raben Abraxas, abends im weißen Haus, dass er der Tochter gebaut hat, nur für sie. Es hatte beinahe dieselbe Farbe wie das im Mund und im Ohr, nur vielleicht heller, denkt er, er schweigt erschöpft von diesen Worten.
Sie hat gewollt, dass er etwas sagt, er fährt sich mit einem kurzen Zucken über die Brust, bestimmt hat der Zug geruckt, manchmal liegen Steine auf den Schienen, er atmet durch, nicht viel, eben so, wie er es noch kann.
Sie hat ihm etwas gesagt und gewollt, dass er ihr etwas sagt, dazu, zu etwas, er versteht nicht wieso. Sie hat gewollt, dass er etwas sagt an dem Tag, als sie seine Hand auf das wulstige Mal an ihrem Rücken gelegt hat und „die Mama“ gesagt hat, vielleicht auch „Nicht, Mama“ und „hast Du gewusst…“ „Hast Du gewusst, dass…“, den Rest, es, spricht er nicht aus. Es erschien ihm normal wie die Landschaft, in die er mit Körper keinen Schnitt setzen kann, er hat unbeholfen „Nein, das habe ich nicht gewusst“ gesagt, natürlich nicht, woher auch, das Haus der Frau und der Tochter war ja nicht seines. Er korrigiert sich, auch die Tochter hat dort nicht wirklich gewohnt. Er glaubt ihr, natürlich, sie ist ja seine Tochter, aber eigentlich denkt er, ist es nirgendwo geschehen.
Es ist nirgendwo geschehen, zumindest nicht in seinem Haus, was er der Tochter gebaut hat, seiner Tochter, er weiß genau, dass er eine hat. Er atmet aus, sein Mund tut weh, als müsste er mit den Wangen irgendetwas festhalten, warum auch nicht, es ist ja doch nicht zu ändern.
Er ist gerne in den Zoo gegangen, daran erinnert er sich, einmal hat er ein Reh aufgezogen, das muss doch reichen, das reicht doch, seine Hand fährt über die Brust. Der Stein drückt, eigentlich hätte er gerne der Tochter etwas gesagt, er korrigiert sich, seiner Tochter, seiner, die Frau weiß von nichts, aber er, er hat ein Kind.
Sie hat schwach gerochen, trotz der Male, aber vielleicht war es auch ein anderer Geruch, einer, der sickerte, er weiß es nicht, was kommt schon aus einer Frau heraus.
Der Hund vorne kuckt traurig, ein Kampfhund, er sitzt zwischen den Füßen eines Mannes mit Brille, er geht. Der Mann, denkt er, nicht er selber, er geht nicht, er macht eine Bewegung mit dem Arm, auf dem sind kaum Haare. Früher ist die Frau schüchtern gewesen, erinnert er sich, nein, er erinnert sich nicht, auf seiner Stirn erscheint eine Falte, er möchte lieber müde sein. Die Frau ist eine Landschaft, in die er nicht eingreift, lieber nicht. Aber seine Tochter, die hat etwas zu ihm gesagt, das drückt gegen den Stein an, er spricht es nicht aus. Er spricht es nicht aus, sie soll ihn doch in Ruhe lassen, nicht die Tochter, natürlich, die nicht, aber sie, sie die keine Landschaft sein will, die so sein will, als wäre sie keine, was will sie denn noch?
Er hält sich die Ohren zu, nein, doch nicht, Gott-sei-Dank gehen seine Hände nicht mit. Er war ja nicht dabei, denkt er, er hat ja in diesem Haus nicht gewohnt, das war ihm zu laut, in dem Haus wie eine Landschaft, in die er nicht eingreift, auch wenn sie…in seinen Ohren rauscht es, er sagt nicht „wenn sie auf seine Tochter niederging“, er denkt das nicht, er war ja nicht dabei. Er atmet vorsichtig durch, da geht zu wenig Luft rein, er lacht, so kann man ja nichts wissen. Nur schlafen und arbeiten, das macht er gerne und Tierfilme sehen, die jungen Wildschweine heißen Frischlinge, das hat seine Tochter auch gewusst. Er streicht mit seiner Hand über das rechte Knie und tastet die Knochen ab, am äußeren Rand, er bewegt es leicht, ein bisschen, der Fuß macht ein leises Geräusch, wenn er von einer Stelle auf eine andere geht.
Es ist beinahe ein Geräusch wie das als die Tochter wegging von der Hand, die auf ihrem Rücken liegengeblieben ist, seiner, er erinnert sich, seiner, er würgt etwas Luft hervor und atmet aus. Die Haut auf dem Wulst war nicht mehr aufgeplatzt, er denkt an rasch durch die Luft niedergehende Bewegung von etwas Hartem, von oben nach unten, so etwas kann er nicht, woher auch, ein Tier vertreibt man mit einem Stecken, der horizontal die Luft teilt, man will es ja nicht verletzen.
„Sie hat Angst gehabt.“, hat die Tochter von der Frau gesagt, er versteht nicht wieso, er hat keine, nur manchmal, nicht vor den Steinen im Mund, sondern vor den anderen, den Klumpen aus den Plättchen im Blut, die wandern, von Gefäß zu Gefäß, sie sind wohl ähnlich. Er blickt aus dem Fenster, dort sinkt jetzt Regen, schräg. Einmal, als er zur Kirmes gehen wollte, nicht gehen, sondern
noch etwas bleiben wollte, mit ihr, mit der Frau, ging die Hand der Mutter schräg auf die Wange der Tochter nieder, nicht seiner Tochter, auf die Wange der Frau, die er „die Mama“ nennt, es war ihre Mutter. Er erinnert sich an die klatschenden Geräusche, als sie gefragt hat „Darf ich noch…?“ Er glaubt, sie waren höflich. Der Kopf der Frau hat sich mit den Geräuschen bewegt, danach waren rote Flecken auf ihren Malen, einer war später blau. Es war sehr laut, daran erinnert er sich, auch, dass er nichts gesagt hat und dann ging. An den anderen Mann, den Vater der Frau, die er seine nennen sollte, erinnert er sich nicht, er hat wohl nicht in diese Landschaft eingegriffen, die damals niederging, schräg, den Kopf der Frau durch die Luft treibend, nicht horizontal, von oben nach unten, wieder und wieder.
Er atmet mühsam aus, einmal, zweimal, das geht noch ein wenig so. Er dreht sich leicht zum Fenster hin, sein rechtes Knie berührt die Polster vom Sitz gegenüber, nicht ganz, aber fast. Eben hat da noch eine Frau gesessen mit fallenden Händen, die Haut war weiß, mit dunklen Malen. Vorsichtig tastet er seinen Rücken ab, da ist nichts, aber vielleicht hat er nur nicht genug gesucht. Er möchte der Tochter etwas sagen, die Landschaft zieht, vielleicht reicht das nicht, etwas, vielleicht dass er sie…er spricht nicht weiter. Der Stein im Mund macht ein Geräusch. Es ist anders als das, was die Tochter mit dem sich niemals schließenden Mal auf dem Rücken gerufen hat, gerufen bevor es unter dem Holzstiel aufbrach, 3 cm Durchmesser, mit kleiner Stimme hat sie gerufen, wieder und wieder: „Nicht Mama. Bitte nicht.“
(c) Judith de Gavarelli 2010