Mutterkorn, Milchtritt
Mutterkorn: Milchtritt
Abschied und die Eröffnung eines Feldes von Zärtlichkeit
Wie schreibt man etwas Jüngeres? Etwas Jüngeres und etwas Älteres, Milchtritt, Atem und weicheres Licht? Wie schreibt man eine Spur, die zu Erde hinführt, nein, nicht zu ihr hinführt, ich möchte eher sagen: durch sie hindurch. Durch sie hindurch zu der Frage: Wie schreibt man Mütter, andere Mütter?
Du bist fort. Ich schreibe « Du bist fort » an einem Tag, wo sich das Grün neben den Fenstern eines Zuges ausdehnt, sechzehn Uhr zwei, eine Bewegung aus Hügeln, grünen Bäumen und Gras, eine Tunnelfahrt, ich lache : Endende, als endlich gewusste Nacht.
Du bist fort. Ich schreibe diese Abwesenheit als etwas, das mich erstaunt. Ich schreibe Deine Abwesenheit als eine Leerstelle, die Leerstelle, die geschrieben werden muss, bevor ich von Müttern schreiben kann, ein leeres, auch glückliches Rufen: Du bist fort.
Du fehlst mir. Du fehlst mir nicht. Was mir fehlt, ist das Haus eines Atems, eine sich hebende und senkende Strecke, ein milderer Gang. Ein milderer Gang, hinein in meinen Schlaf, nein, nicht meinen, den Schlaf von etwas Jüngerem. Ich habe mir immer den Schlaf gewünscht, weißt Du das? Glück hieß schlafen, am besten so wach sein, als ob man schliefe, ruhig, unbeschrieben und weiß.
Ich habe mich immer nach Ruhe gesehnt, der Ruhe Deiner Abwesenheit, dachte ich, mit dem Rufen, dem Flehen „Lass mich in Ruhe.“ Damals dachte ich, der Schlaf, der Schlaf und die Ruhe wären Deine Abwesenheit. Heute denke ich, das war falsch. Was roch wie die Sehnsucht nach deiner Abwesenheit war eher der Ruf nach einer Anwesenheit, einer anderen.
Ich stelle mir vor, dass Du höhnisch lachen würdest, wenn Du liest, wie ich die Wörter auftauchen lasse, bevor sie einen Sinn machen. Milchtritt, Atem, weicheres Licht, Jüngeres und Älteres, darauf vertrauend, dass sich zwischen ihnen Fäden spinnen, das etwas wächst, eine Erzählung, Text, vor dessen Sinn ich erstaunt stehe. Beziehung nenne ich das. Wir hatten so etwas nicht.
Ich meine, natürlich hatten wir ein Verhältnis, Positionen und Ordnungen zueinander, aber diesen Raum, wo aus dem Unbenannten etwas wächst, den gab es zwischen uns nicht. Zwischen uns gab es ein Feld von Angst.
Ich sehe Dich weinen vor Angst, ich sehe Dich Gift speien, schlagen mit dunkel verzerrtem Mund, ich sehe Dich die Hände ausstrecken mit einem verzweifelt gerufenen: Bitte liebe mich doch!
Du hast nicht verstanden, wie etwas wächst. Ich sage das beruhigend, wenn Du willst, lies daraus: ich verzeihe dir das. Aber ich sage es noch mal: Du hast nicht verstanden, wie etwas wächst. Du hast nicht verstanden, dass ich wie in die Welt gelegte Wörter war, deren Sinn sich erst im Wachsen erschließt, eine eigene Erzählung, ein Text.
Ich zwinge die Worte nicht. Das sage ich Dir nicht, um zu sagen, zu behaupten, ich wäre ein besserer Mensch. Denkst Du noch oft an unseren Kampf? Dein letzter Schlag aus der von Dir erdachten, erfühlten Ohnmacht, höhnisch zu mir zischend: „Du bist doch kein Mensch!“ mit dem heimlich erhobenen Kopf „Ich schon!“ so gesprochen, als würde einen Leiden adeln und als wäre Stärke Schuld, als wärest Du das letzte, was Dir in der Ohnmacht bliebe: ein besserer Mensch.
Ich möchte also nicht sagen: „Ich bin ein besserer Mensch“, eigentlich sage ich sogar ganz gerne „Ich bin schlecht.“ Ich bin gut und ich bin schlecht. Ich bin ein Mensch. Aber ich bin auch eine, die lernt, wie man wächst.
Du denkst vielleicht an Pflanzen, die Weinberge rechts, Äpfel und Hortensien. Ich aber spreche vom Text, der vor allen Äpfeln und Pflanzen eingeschriebenen Spur. Manchmal muss ich lachen, ich neige zu großen Worten, aber ich mache sie auch gerne wieder klein. Siehst Du, man muss nicht gegen sie kämpfen, man kann die großen Worte streicheln, sie verspielt anpusten, an ihre Hüllen tippen, bis sie die kleineren, wärmeren, jüngeren Wortkeime freigeben, die in ihrem Fruchtfleisch hocken. Und wenn sie das tun, muss man sagen: „Willkommen.“ Erstaunt, verdattert, manchmal erschrocken, manchmal beglückt. Aber immer „Willkommen“, ob man denkt es zu können oder nicht.
Und dann muss man mit den Augen ihre Form abtasten, ihren Geruch atmen und den verborgenen Ankündigungen in ihrem Inneren lauschen. Das ist kein Wille, sage ich Dir, das ist Lauschen und Gespräch.
Da atmet sich etwas aus und vermengt sich mit der Luft, man kann dann vorsichtig nach Erde für die jungen Worte suchen, Erde und Gefährten, manchmal dauert es lange, manchmal geht es schnell. Aber sei beruhigt: man muss nicht alles wissen, sie antworten einem ja und sagen: „Sieh, ich falte mich aus.“ Und rufen Milchtritt, Atem, weicheres Licht. Sie legen Spuren, denen man folgen kann, den gleichmäßigen Bewegungen eines ruhigen Atems in dem etwas anschwillt und zusammensinkt, die beharrlichen Bewegungen in fremdes, milchduftendes weiches Fleisch bis es etwas freigibt, um das sich der Mund legt: ein nährendes Wort. Und das weichere Licht: Weißt Du, dass dann die Konturen verwischen und die Worte unscharf werden, eine kleine Unschärfe, eine sanfte Veränderlichkeit in ihrer Bedeutung? Und dass das Licht ihnen dann tröstend die Hand auf die Schulter legt und sagt: „Für heute ist es gut.“? Das weichere Licht entblößt und entstellt nichts, auch nicht die unbeholfenen Bewegungen kleiner Füße, ungeschickter Worte an Orten, wo es vielleicht keine Nahrung gibt.
Die Worte legen mit den Rufen nach ihren Gefährten Spuren, natürlich versteht man sie oft nicht. Aber man muss nicht nur, man darf auch darauf vertrauen, dass sie zusammenwachsen und in diesem Wachsen etwas freigeben: Einen Sinn, eine Erzählung, einen Text.
Das hätte ich Dir gerne gesagt damals und ich hätte gewünscht, dass Du es hörst.
Ich war wie in die Welt gelegte Worte in einer Dir fremden Sprache, Milchtritt, Atem, weicheres Licht, ein eigenes Sprechen, vor allem aber: Dir fremd. Wie kann ich Dir ohne das vernichtende Gift einer Anklage sagen: „Du wolltest mich nicht als meine Sprache, sondern als einen von Dir erdachten Text.“?
Ich kehre zurück auf das Feld Deiner Angst, der Angst vielleicht, dass nichts von Dir in die Welt gelegtes von alleine wächst, wächst, ohne in eine von Dir erdachte Form gezwungen zu werden. Ich sage „von alleine“ und muss es Dir erklären: Natürlich muss ich den Texten meinen Stift zur Verfügung stellen und ein Blatt Papier, auch muss ich sie oft rufen, nicht fordernd, sondern wie ein Liebender in die Nacht. Ich muss mein Befremden aushalten und oft mein Erschrecken, meine Verzweiflung, wenn die Worte sich mir entziehen und meine jedes Mal auftauchende Angst, dass sie diesmal, diesmal, diesmal nicht zurückkehren werden, wenn sie fort sind, meine Angst, dass diesmal, diesmal, diesmal nichts aus ihnen wächst. Ich muss ihnen Nahrung anbieten mit der Unsicherheit nicht zu wissen, was sie nährt und wann sie sie nehmen. Und ich muss Ihnen Räume anbieten, in denen sie sich entfalten können, ohne zu wissen, ob sie es tun. Ich muss manchmal tagelang schreiben und den Schmerz aushalten, dass sich nichts öffnet, beharrlich wie ein milchtretendes Kätzchen, manchmal mit nichts als der Erinnerung an einen entfernten Duft, dem ich meine Hand, meine Schreibhand hinhalte mit einem nicht befehlenden, sondern wärmenden: „Nimm sie Dir. Ich bin da.“
Ich versuche meinen jüngeren Wörtern eine gute Mutter zu sein und zum Dank zeigen sie mir, wie etwas wächst. Ich trete etwas zurück und gebe ihnen einen Raum wie ein Schlaf. Das zu können, manchmal zu können ist eine Gnade, weißt Du das?
Und ich glaube, es ist, es war für Dich schrecklich, außerhalb dieser Gnade zu leben, der Gnade des Vertrauens, dass etwas wächst. Du hattest Angst, nicht wahr, dass das, was aus Dir, aus mir heraus wächst, Geschwulste sein würden, Dämonen, Verrücktes, Unsinniges, Entstelltes, zum Scheitern Verurteiltes. Und Du hast mich verwechselt mit Deiner Angst.
Soll ich Dich dafür hassen? Heute tust Du mir leid. Du tust mir auch leid, weil ich, damit etwas zwischen uns wachsen könnte, die Worte vor Dich legen müsste, wie sehr deine Angst das Feld, das ich bin, verwüstet hat. Und ich müsste auch die Worte vor Dich legen, wie viel Schmerzen und Mühe es mich kostet, Parzellen wieder fruchtbar zu machen ohne zu wissen, ob es gelingt. Du tust mir leid, weil ich nicht glaube, dass Du diese Worte aushalten würdest, ich kann mir vorstellen, dass das Schmerz und Entsetzen bedeuten würde, auch den Mut zu sagen: „Es ist wahr.“ Du tust mir leid, weil ich glaube, dass Du diesen Mut nicht aufbringen kannst, weil Dir die Kraft fehlt, dir selbst zu verzeihen. Denn Du hast es nicht gelernt, Deiner Angst, Deinem Jüngeren, eine verzeihende Mutter zu sein, eine, die sagen kann „Es ist wahr.“ und sich trotzdem verzeiht. Du tust mir leid, weil ich Dir diesen Mangel an Mut nicht verzeihen kann, ein Mangel, der sich zwischen dich, mich und das Wachsen schiebt, das mögliche Wachsen zwischen uns. Und Deines.
Ich versuche meinen jüngeren Wörtern eine gute Mutter zu sein, auch milder meinen älteren gegenüber, den Wörtern von Dir. Den Wörtern von dir, aus deren Gift im Kern Deine Verzweiflung quillt, Deine verzweifelte Frage: „Warum liebst Du mich nicht? Und warum willst Du nicht meine Milch?“ Ich müsste Dir sagen, dass ich nicht Deine Angst trinken wollte und auch, dass mein Milchtritt oft ins Leere ging, weil nicht atmendes Fleisch geantwortet hat, sondern das harte, bläulich vibrierende Licht Deiner Angst, in dessen Sirren kein Raum blieb für die Verletzlichkeit jüngerer Worte.
Heute gehe ich auf mein eigenes Feld, hindurch durch Erde zu der Frage, wie man andere Mütter schreibt, Jüngeres und Älteres und zwischen ihnen ein wachsendes Gespinst im weicheren Licht. Ich versuche, meine jüngeren Wörtern gegenüber eine gute Mutter zu sein und sie einströmen zu lassen in die Leerstelle eines unvermutet auftauchenden „Du bist fort.“ Dort lasse ich sie beginnen mit Milchtritt, Atem und weicherem Licht, wissend, nein niemals wissend, sondern nur zärtlich und mit täglich aufs Neue versuchtem Vertrauen, dass aus ihren eigenen Bewegungen, aus Bewegungen, die ich verstehe und nicht verstehe, das daraus etwas wächst. Etwas, meine Erzählung, Milchtritt, Atem, weicheres Licht, mein Text von Müttern, anderen Müttern und vielleicht auch trotz allem von Dir. Du bist fort.
(c) Judith de Gavarelli 2011