Mutterkorn, Showdown

„Psycho“ von Hitchcock ,eine Szene, eine Enthüllungsszene kurz vor Schluss: eine Frau, die Norman Bates Geheimnis aufdecken will, geht in den Keller hinunter, entschlossen, und findet dort seine tote Mutter, erkennt, dass er die Mutter ist, die tötet, dass er im Mutterwahn, in den Kleidern der Mutter tötet. Sie schreit, er hört sie, stürzt die Treppe hinunter um sie zu töten und wird überwältigt von ihrem Freund, dem Geliebten der Schwester, sie überlebt. Ich fragte  mich, was geschehen wäre, wenn sie nicht geschrieen hätte, sondern eingetaucht wäre in die Nacht des Kellers, um es zu sehen, um ihn zu sehen, um etwas über sich zu sehen: Das Geheimnis, den Täter und die Tat.

Mutterkorn, Showdown

Sie wird eintauchen in das Dunkel, habe ich geschrieben, das Dunkel des Kellers, herausgetreten aus der Linie zwischen ihm und der Mutter, leise, ohne Schrei, verborgen, geborgen von milchgleicher Nacht. Dort, habe ich geschrieben, sieht es sie nicht, dort sieht er sie nicht, dort sieht sie sie nicht. Dort würde sie sich umdrehen, herausgetreten aus der Linie, eingehüllt in eine neue, tröstende Nacht. Von dort aus würde sie es sehen.

Das habe ich geschrieben, zu einer Zeit, an einem Ort. Ich weiß nicht, ob es stimmt.

Sieht sie etwas? Was wünscht sie, kann sie sehen? Ich denke, sie wünscht sich einen Showdown, ein Entdecken, das nicht folgt, ein Entdecken über sich, den Täter und die Tat. Sie wünscht sich ein Entdecken von einem Geheimnis, das eine Zeit und einen Ort bekommt und  verschwindet aus dem Nebel, dem Immer wieder, der Entgrenzung des namenlosen Raumes, einer Furcht ohne Rahmen, ohne Wände, ohne Haus.

Ich denke, sie wünscht sich ein Sehen, ein Erkennen wie ein Showdown, dem die Rettung, die immerwährende Rettung folgt. Ich weiß nicht, ob es gelingt.

Sie sieht vielleicht eher, wie er die Treppe hinuntergeht, langsam, zärtlich, in einer sich hinwendenden, suchenden Linie, der Blick wie ein Tunnel, eine Fahrtstrecke zur Mutter hin, eine Strecke für nur ein Gefährt. Sein Körper folgt unterhalb der Linie, er geht auf die Mutter zu, schlafend, eine Strömung unter dem gebannten Blick. Er geht auf die Mutter zu, legt ihr die Hand auf den Mund, die linke, mit der rechten streift er ihr die Haare aus der Stirn, zart und lässt das Messer an ihren Rippen entlangklimpern, sie denkt: Wie ein Spiel, wie ein Spiel. Er sticht nicht zu, die Mutter ist ja schon tot.

Was sie über sich selber sieht, weiß sie nicht. Sie wird anfänglich angestrengt in das Dunkle starren, oder auf die Szene, aus der sie heraustrat, nicht blind. Sie wird etwas erkennen wollen. Ich weiß nicht, ob es gelingt.

Ich weiß nicht, ob es gelingt in der Hinwendung, der Zuwendung, im angestrengten Schauen wie ein Tunnel, wie eine Strecke für ein Gefährt. Sie wird zu sehen versuchen und im Blick wie ein einziger Fahrtkanal, ein Blick wie ein Tunnel würde ihr Kopf leicht werden wie weiße Glocken und ihr Mund wie ein Tor, in das alles hinein- und hinausfahren kann bis es überschäumt und bricht, denkt sie, ein Brechen, ein Zerbrechen auf einer eingleisigen Strecke, ein leerer Ort.

Vielleicht muss der Blick schweifen. Ich sehe sie dort stehen im milchgleichen Dunkel, die Schultern unsicher drehend. Wendet sie den Blick? Sie dreht die Schultern, der Blick folgt der Körperlinie, er schweift ein wenig, leicht, die Pupillen zucken wie im Schlaf. Lass mich sehen, lass mich nicht sehen, betet sie.

Er hört sie atmen und sucht das Dunkel ab, trifft aber nicht ihren Blick, da war nichts, denkt er. Er sieht sie nicht und küsst die tote Mutter, das Messer in der Hand und saugt aus ihren Lippen, den grinsenden, toten, die Mutter in sich hinein. Er singt ein Lied. Im Dunkel wendet sie sich ab, verlässt die Linie des Tunnels, die Fahrstrecke für nur ein Gefährt, ihr Blick geht durch den Raum. Sie sieht die Mutter von hinten, der Blick schweift und wendet sich ab, um sie ist Kellerraum, Geschehen und Dunkel, Szene und Nacht.

(c) Judith de Gavarelli 2011