Ratten
Ratten –
Trauma und Weltverlust
Ich dachte, es wären Ratten, aber es waren nur zwei Blätter, graugelb, eine Kratzspur im Novemberglück.
Was rede ich von Kratzspuren in irgendetwas, der Zeigefinger meiner linken Hand zieht nur eine kleine Linie, kurz unterhalb der Schulterkugel, rötlich pulsierend, das ist wahr und er tut es, während die Ratten sich in mein Bewusstsein fressen, nein, das ist nicht richtig, sie fressen sich nicht hinein, sie huschen eher dort herum, eine leichte, gräuliche, schattige Bahn.
Ich habe keine Furcht vor Ratten, sie bedeuten mir nichts. Was mir etwas bedeutet, ist das huschende Grau, die etwas dunklere Bewegung vor einem dunklen Hintergrund, eine bewegliche Öffnung in „Ich weiß nicht was“, ein kleines, felliges Tor.
Sie lösen kein Grauen in mir aus, sie sind eher wie große Mäuse im Haus der Straße. Einmal wohnte eine Maus in meinem Haus, ich habe sie gefüttert und war traurig, als sie mein Essen nicht nahm.
Es geht auch nicht um Ratten, eher um den Moment konzentrierter Anwesenheit, als ich das Huschen sah, eine Bahn, eine rötlich pulsierende Kratzspur in meinem Bewusstsein. Eine Anwesenheit, die einzige in den letzten vier Wochen.
Meine Abwesenheit vertut mein Leben. Ich spreche nicht von etwas Dramatischen, was Schwellungen, Risse, Geräusche erzeugt. Ich spreche eher von einem leisen Versinken, eine Betäubung mit einer Welt, in der ich Bunte lese, mein Magen immer ein wenig zuviel gefüllt ist, ich muss lachen, das klingt wie eine Kritik an etwas, gegen das ich nichts habe, so wenig wie gegen Ratten.
Ich habe auch nichts gegen Abwesenheit, oder vielmehr: Ich habe ihr nichts entgegenzusetzen. Für mich ist Anwesenheit immer noch eine Gnade. Eine Gnade, auch ein Fluch, zumindest vermute ich das, ich werde einen Grund haben zu verschwinden.
Die Mädchen mit den rasierten Spalten vor mir sind schön, flachbäuchig, ich werde nie wieder so sein. Die Jahre meiner Abwesenheit haben sich wie Hüllen um meinen Körper gelegt, dumpfe Hüllen, in denen wenig Leben zirkuliert, ich vermute, damit die Geräusche, die ständigen, wiederstandslosen Berührungen, die Fraßspuren, die bis zur Tätowierung wiederholten Kratzspuren und die aus dem Nichts auftauchenden Ängste dumpfer werden, unhörbarer, nicht mehr zu den Nervenenden durchdringend. Ich habe mich geirrt: Die Nervenenden liegen weiter auf der Haut, offen in den weißen Öffnungen von gerissenem Gewebe. Und die Kindern wimmern täglich, bitten, es still werden zu lassen, es zu beenden, es zum Schweigen zu bringen, was ich versuche, was ich tue, mit Fremde, Zuckerwatte, gelblich ölig geschwollenen Zellen, dem Lesen von Stars, ich lache mit Brad Pitt, dem Dinner beim Bambi, die Kinder verstummen, ich sehe keine Ratten, die Tore sind zu.
Das klingt alles so, als wollte ich etwas verurteilen und mir zurufen „warum tust Du den nicht?“ und „Du musst doch nur…“ In Wahrheit habe ich keine Lösung für eine Not, eine Not, die mich oft in die Abwesenheit verschwinden lässt. Eine Abwesenheit, die mein Leben vertut und der ich nur manchmal durch zwei erdachte Ratten, zwei fellige Tore, huschende Öffnungen in der Novembernacht, entkommen kann.
Ich bin gerne da. Ich sehe dann die Kreise, die nackte Körper im beleuchteten türkisfarbenen Wasser zeichnen, ich sehe sie sonst auch, aber anwesend machen sie einen Sinn, welchen ist schwer zu erklären. Am ehesten machen sie vielleicht einen Bewegungssinn, einen huschenden, pulsierenden Sinn, den auch eine schlagende Ader macht. Ich bin gerne da und leide unter meiner Abwesenheit, die eigentlich geschaffen ist, einem Leid zu entkommen.
Mein Kopf schmerzt von einer Frau, die sich gegen mich lehnt. Das kann gut sein oder schlecht. Ich meine nicht das Lehnen, das mich gegen die Scheibe drückt, vielleicht auch in den inneren auf jedes Zirpen der Erinnerung reagierenden Räumen durch sie hindurch, hinein in das Verschwinden. Ich meine eher den Schmerz, der manchmal ein Tor ist und manchmal keines, so wie Ratten, huschende Öffnungen, durch die das Sprechen hindurchtritt, die antwortende Bewegung in die Anwesenheit, die ein Tor braucht, jedes Mal.
Ich habe den Mechanismus der Tore noch nicht verstanden, ich vermute, es liegt nicht daran, dass ich ich bin, sondern an der Zone, in der das Öffnen der Tore geschieht, ein stiller, huschender Ort. Es ist nicht einer, an dem ich etwas verstehen kann in der Art, wie ich weiß, wo eine Gala oder Bunte zu kaufen ist, bei Rewe liegen sie links, sie kosten zwei Euro siebzig doch nachts ist mein Bett nass von Schweiß, der kommt aus anderen Orten so wie Tore und Ratten.
Es macht auch keinen Sinn, auf ihr Erscheinen zu lauern oder den Dingen ein erwolltes Bild anzuziehen, sei es ein graues oder weißes, in dem ich den rötlichen Fleck auf dem Bademantel ignoriere, ein Mal aus Essensresten, banal und nicht weit von der pulsierenden Kratzspur auf der Haut. Der Kragen verdeckt es nicht, sowenig wie die blinden, schmutzigen Flecken auf der Netzhaut, ich kann über sie Karl Lagerfeld legen oder das neue Kleid dieser oder jener aus der Bunten beim Presseball, es bringt sie vielleicht einen Moment zu Schweigen, aber es nimmt sie nicht fort. Es nimmt sie nicht fort, niemals, aber oft bringt es mich zum Verschwinden.
In der stillen, tastenden Logik des Halbschlafes, da kann ich sie jedoch manchmal betreten, Räume von Flecken und Kratzspuren, im günstigsten Fall sind sie ein Tor.
Das klingt wie ein Ratschlag, als müsse ich mich nur mit meinem Wollen in die Fehler, Makel und Risse hineinbegeben, hinein in etwas an einer lokalisierbaren Stelle. Aber so ist es nicht, leider will ich sagen, mit dem Weinen über meine Abwesenheit, die mein Leben vertut. Es ist eher ein huschendes, bewegliches Feld, zwei erdachte Ratten oder auch die kreiselnden Spuren, die nackte Körper im beleuchteten Wasser hinterlassen, der Kummer bei dem Blick auf die Mädchen mit den rasierten Spalten, die Störung eines roten, nicht zu verhüllenden Fleckes auf dem weißen Frottee, Kratzspuren, kurz unter der Schulterkugel, wenn sie wahr sind, es kann alles sein. Ich muss den Moment finden, wo etwas ein Tor wird, durch das ich schreibend und sprechend heraustreten kann aus meiner Abwesenheit und wenn es so ist, muss ich es tun, sofort.
Ich muss dann die Wahrheit sagen, die Wahrheit, wie lächerlich das klingt, aber es bleibt mir nichts, als die Seiten des Kopfes mit den Flimmerhärchen im Ohr in Richtung dessen zu lehnen, was gerade zu sprechen versucht und wieder und wieder zu sagen „Sprich doch, sprich.“ ohne zu wissen, ob und wann es es tut. Ich muss es betrachten mit Augen wie lauschende Ohren und ihm wenn es spricht meinen Schreibmund leihen, für das, genau das, für diese Sprache und dieses Tor.
Ich muss ihm meinen Mund leihen für das Wimmern der Kinder, Kratzspuren, irgendetwas, durch das ich eintreten kann und sei es durch zwei sich vor einem dunklen Grund bewegende Flecken, eine leichte, gräuliche schattige Bahn, die sich bewegt, vor mir, in der Novembernacht.
Ich dachte es wären zwei Ratten, aber es waren nur zwei Blätter, graugelb, eine Kratzspur im Novemberglück, eine Öffnung auf der Haut, rötlich, pulsierend und ein Hineinhuschen durch diesen Riss in eine Anwesenheit, meine.
Eine Anwesenheit, eine Gnade, ein kleines, felliges Tor.
(c) Judith de Gavarelli 2008