Rote Schuhe

Resilienz, Kreativität und das was geht, wenn nichts mehr geht

Rote Schuhe. Keine High Heels. Keine Gesundheitsschuhe.  Sie gehören nicht mir, sondern einer Freundin.  Dieses Schuh gewordene Leuchten ist eines der anrührendsten Beispiele für die Kraft menschlicher Kreativität. Die Schuhfinderin ist nicht nur eine wunderbare Designerin. Sie hat auch eine Erkrankung. Chronisch progressiv, eine von denen die man nicht haben möchte. Sie kommt schubweise und lässt dann neben vielem anderen Gangunsicherheiten entstehen, einen taumelnden Gang auf unsicherem Boden. Eines Tages erzählte sie mir, dass sie sich für die Taumelgangzeiten höhere rote Schuhe gekauft hätte.  Solche, die wunderbar aussehen zu ihren fünfziger Jahre Kleidern. Auf mein Erstaunen antwortete sie, die roten Schuhe würden sie bewusster gehen lassen. Durch diesen Akt der freudvollen Bewusstheit, dieses Verwandeln der Wunde des Taumelns, liefe sie weniger Gefahr zu stürzen.

Wenn ich daran denke, möchte ich nicht gehen, sondern niederknien, so ergreifend finde ich diesen Ausdruck von Wandlungskraft unserer Kreativität.

Im Oktober 2019 waren meine roten Schuhe rosa Plüschpantoffeln und die Kamera meines Smartphones. Ich war lebensbedrohlich erkrankt. Während des damit verbundenen medizinischen Notfalls hatte ich erlebt, dass mir ein damals nahestehender Mensch die Hilfe verweigerte, mich ins Krankenhaus zu bringen. Hilflosigkeit, Schmerzen, ein versagender Kreislauf, Kontrollverlust, zu wenig Spanisch, um mich mitteilen zu können. Und dazu die Erfahrung, dass mir jemand, den ich in äußerster Not um Hilfe gebeten habe, mit seinem Handeln sagte: „Dein Leben ist nicht schützenswert.“ Das war hart, richtig hart. Und Schicksalschuhe, die mir in dem Moment zu groß waren: die sich selbst verdauende Leber und Bauchspeicheldrüse und die Unverdaulichkeit des menschlichen Entsetzens haben mich straucheln lassen, meinen Boden zum Wegsacken gebracht.

In der Nacht im Krankenhaus, wohin ich dann durch einen sehr lieben Menschen doch noch rechtzeitig gekommen bin, habe ich den Schalter zwischen Leben und Tod gespürt. Ich habe gespürt, dass ich all meine Kräfte einsetzen muss, damit das ES in mir, das nicht mehr konnte und wollte, diesen Schalter nicht umlegt. Denn sonst würde ich die Nacht nicht überleben. Und trotz des schmerzverunschärften Dämmerns mit teilweise nur noch 32 Grad Körpertemperatur habe ich den Schalter auf „Doch noch Leben“ gehalten. Das war ein zutiefst bewußter und unbewußter Akt gleichzeitig. Endgradig.

Und dann ist etwas passiert. Nicht spektakulär, kein Tunnel mit Licht, keine Chöre. Es war viel kleiner. Etwas in mir hat begonnen. Leise begonnen, beinahe unmerklich. Am nächsten Tag fing ich an, Makrofotos der Blutergüsse und tropfenden Infusionen zu machen. Später schlurfte ich mit meinen rosa Pantoffeln durch die Krankenhausflure und fotografierte Gänge, Pflanzen, Dinge. Und während ich das tat, wurden in mir wieder die kleinen Tierchen lebendig. Die kleinen Tierchen, so nenne ich oft die Selbsttätigkeit der kreativen Kräfte in uns. Unser Teil sein von etwas, durch das sich Leben immer wieder neu erschafft.  Mit ihren Bewegungen konnte ich dann die Hilfe anderer Menschen in mich hineinlassen, mich wieder an den Wärmekreislauf menschlicher Verbindung anschließen und meine Umgestaltungskräfte ihre Arbeit tun lassen. Ihre Arbeit nicht nur zum Durchstehen dieser Krise, sondern auch für die Neugestaltung in meinem Leben danach. Und nicht zuletzt ihre Arbeit, die sie in den heimlichen Genesungsbewegungen meiner Zellen getan haben. Ihre Arbeit, für mich rote Schuhe für einen neuen Gang zu finden.

Durch die Bewegungen der rosa Plüschpantoffeln, der Kamera, der Wärme der Menschen sind mir für diese Situation neue Schuhe gewachsen. Und mit Ihnen die Gewissheit, dass die wundersame Kreativität unseres Geistes auch in der größten Ungewissheit neue Schuhe wachsen lässt.

Wir alle tragen Schuherfinder in uns.

Schuherfinder für unsere ganz eigenen roten Schuhe.

Für das was geht wenn nichts mehr geht.