Shamsia Hassani: die Zeugin des unter dem Tschador Verborgenen

Wände als Fürsprecherinnen der Frauen Afghanistans

Trauer, E-Guitarren und Bockshörner unter schwarzem Stoff
Während die Gedächtniskunst von Christian Boltanski von der Zeugenkraft des rückwärtsgerichteten, sowohl mahnenden wie auch würdigenden Blicks lebt, haben die Arbeiten der 1988 geborenen afghanischen Streetart-Künstlerin Shamsia Hassani keinen zeitlichen Abstand. Teilweise unter Lebensgefahr ruft sie mit ihrer Spraydose die Stimmen der Frauen Afghanistan in überlebensgroßen Figuren von den Wänden Kabuls. Sie zeigen kraftvolle junge Frauen mit E-Gitarre und Keyboard unter dem Tschador. Die im Alltag Unsichtbaren tragen auf einigen Bildern Bockshörner und recken sich in den Himmel, auf anderen verbergen sie die Musik wie einen verheimlichten Schatz vor den Blicken der Taliban.  Manchmal sind sie umgeben von einer bedrohlichen Masse dunkler Männergestalten, manchmal von an Vampire erinnernden Fledermäusen, die vielleicht für das Aussaugen dieser Kräfte stehen, vielleicht auch für die unabhängigen Nachtgeschöpfe, die sich nicht von verhüllendem Stoff domestizieren lassen. Manchmal erscheinen sie aus einem Riss in der Straße wie unzerstörbare Gewächse. Auf wieder anderen Bildern tragen sie eine Zielscheibe auf ihrem Körper, deren Zentrum der Bauch mit seiner Kraft, seinen Gefühlen und seinem Lebenshunger ist. “Es gibt uns” hallt als Echo der ehemaligen Dozentin der Kunstakademie in Kabul von den Wänden wieder, die mit der Machtübernahme der Taliban diese Arbeit aufgeben musst. “Es gibt uns und wir sind nicht einverstanden.”

Empathische Zeugenschaft: die Psychoanalytikerin Jessica Benjamin
Die hohe Gefahr, unter der die Arbeiten entstanden sind, erinnert an den Aspekt der Unablehnbarkeit, wenn wir in den Zeugenstand gerufen werden. Hassani wirkt wie eine, für die das Bindende des Rufes nach Bezeugung der Situation afghanischer Frauen jederzeit gegenwärtig ist. “Du bist nicht alleine.” rufen ihre Arbeiten anderen Frauen  zu, während die Welt “Es gibt uns und wir sind in Not!” von den Arbeiten hören kann. Auch wenn in Kabul viele Arbeiten sicher von den Wänden verschwunden sind, hört das eindringliche Flüstern aus der Spraydose dank der sozialen Medien nicht auf – hier vor allem Instagram. https://www.instagram.com/shamsiahassani/ Das Ausatmen der Spraydosen scheint eine Rebellionsgemeinschaft zu erschaffen, die die Sichtbarkeit der Frauen mit ihren individuellen Leidenschaften wie ein Banner gegenüber der Entpersonalisierung des Regimes hochhält. Hassani schließt sich damit dem Ruf nach Zeugenschaft im Sinne von Anerkennung der feministischen Psychologin Jessica Benjamin an. Sie spricht von der Notwendigkeit empathischer Zeugenschaft von Unrecht und Aufbegehren angesichts kollektiver sozialen Traumata. Durch die unmittelbare Gefahr, der sich die mittlerweile Geflüchtete und an einem sicheren Ort verborgen lebende Künstlerin bei der Produktion der Arbeiten befand, trat sie raus aus der Position der unbeteiligten Beobachterin und wurde damit Teil aller Frauen, deren Kräfte zur Zeit unter dem Tschador und den repressiven Regeln in der Unsichtbarkeit versunken sind.