CALLEJONCITO UND FALKEN
Warum Gereiztheit Erzählungen braucht
Weltverwirbelungen
Heute morgen erinnerte ich mich beim Betrachten des wilden Klippenstrandes von Callejoncito im Norden La Palmas daran, wie ich an einem Geröllstrand vor Puerto Naos vor einigen Jahren beinahe nicht mehr aus dem Wasser kam. Unvernünftiger Weise ging ich damals an unserem Miniprivatstrand alleine ins Wasser. Unvertraut mit Geröll als Untergrund hatte ich auch die mir gar nicht so groß erscheinenden Wellen falsch eingeschätzt, bis sie es mir unmöglich machten, wieder den Strand zu betreten. Der Boden glitt immer wieder unter meinem Füßen weg und immer neue Brandungswellen wirbelten mich durch eine Welt, die nur noch aus Wasser zu bestehen schien. Es war ein Gestöber aus Steinchen und Gicht und der Angst zu ertrinken. Die Welt ein Wirbel, ich mittendrin in einer verzweifelt atemlosen Bemühung, wieder Boden unter den Füßen zu bekommen. Das Meer nicht mehr mein geliebter Sehnsuchtsort, sondern eine einzige Gefahr.
Als ich es dann schließlich doch geschafft hatte an den rettenden Strand zu kommen, war die See durch eine seltsame Magie sofort wieder etwas anderes. Aus dem Weltgestöber wurde durch meine Erzählung am Abend wieder ein zusammenhängendes Gewebe.
Gereiztheit als Traumafolge
Heute, 10 Jahre später, muss ich an diesen Episode denken. Im Moment bin ich viel häufiger gereizt als sonst. Was aus der Welt in mich einströmt findet schwerer einen Platz in dem Gefüge, durch das die Erzählerin in mir die Welt täglich zusammenwebt. Ich finde diese Gereiztheit auch häufig in meiner Umgebung.
Thomas Hübl, der sich mit kollektiven Traumata beschäftigt, vergleicht den Zustand des “danach” mit einer fragmentierten Festplatte, bei der selbst wenige neue Reize den Speicherplatz sprengen. Tilt. Disc overload.
Narrative Kompetenz üben
Die Ereignisse werden bei einem völlig überfordernden Ereignis wie dem Vulkanausbruch unverbunden in Schubladen gesteckt, ein vieldimensionales Puzzle, dessen Unverbundenheit nicht nur Energie raubt, sondern auch mit den scharfen Kanten der Puzzleteilchen unserer Nerven reizt.
So übe ich mich jeden Tag daran, kleine Geschichten des Ortes zu schreiben, an dem ich gerade bin. Unspektakuläres wie das um die Mitte zu enge blaue Hemd des Mannes am Nebentisch der Bar, in der ich gerade einen Cortadito trinke. Vielleicht hat er es zu einer Zeit gekauft, in der er noch schlanker war, vielleicht auch nur in der Absicht, den Laden schnell zu verlassen, irgendetwas gegriffen. Seine Nachbarin trägt noch immer die Maske wie ein Schwimmflügelchen am Arm, ein medizinischer Rettungsflügel, in der Form ist er oft zu sehen. Die Bar heißt Isla Verde und ist von einem unwahrscheinlichen Seeblau, dass sich an das noch unwahrscheinlichere Himmelblau schmiegt.
Es ist wichtig mit der Hand zu schreiben, damit auf das, was in den geheimen Kammern meines Körpers gespeichert ist, sich mit in diese kleinen Erzählungen einfügen kann. Da übt etwas in mir, sich zu verbinden. Narrative Kompetenz üben nennt man das, habe ich vor einigen Tagen in einem Text über Erzähltheorie gelernt.
Was wohl die Falken lernen, wenn Sie durch die Schluchten stürzen, vor ihren scharfen Augen die Welt wie ein kleinteiligen Flurläufer zum Haus ihres Himmels ausgebreitet? An Callejoncito peitschen die Wellen gegen die rauen Klippen. Aus der Perspektive der Falkin im mir ist dies eine Geschichte, die mich dort oben, in meinem Himmelblau, niemals bedroht.
(c) Judith de Gavarelli JUni 2022